Haben wir alle ein Alkoholproblem?
Ich habe mich in letzter Zeit häufig mit Freunden darüber unterhalten, wann eigentlich Alkoholismus beginnt. Und wieso wir leichtfertig „Ja“ sagen, wenn uns ein Drink angeboten wird. Wieso wir immer wieder gern ein bisschen Zellgift aufnehmen.
Wir verniedlichen die Getränke gern: Dann ist es im Sommer das „Bierchen“ zum Grillen im Stadtpark, im Winter heißt es: „Och, ein Tässchen Glühwein auf dem Gänsemarkt“ und zur Pizza in der L’Osteria kann man ja ruhig mal ein „Weinchen“ trinken.
Schon ab einer Menge von fünf sogenannten StandardDrinks, die etwa 10 Gramm Alkohol enthalten, wird vom „Rauschtrinken“ oder „Komasaufen“ gesprochen. Experten sind sich einig, dass ab dieser Menge ein gefährlicher Rausch entsteht, bei dem die Gefahr von Vergiftung und Unfällen stark ansteigt – deshalb wird dieser Grenzwert von allen großen Studien über den Konsum von Alkohol sowie in allen gängigen Informationspotalen verwendet. Und diese Menge ist erschreckend schnell erreicht.
Ein Beispiel: Als Standard-Größe wird ein Glas Wein mit 0,1 Liter berechnet. Bei 200 Millilitern, einer durchaus gängigen Glasgröße, landen schon 1,7 Standard-Drinks auf dem Konto. Ich bin ganz ehrlich: Drei Gläser Wein über einen Abend verteilt fühlen sich für mich nach einem Schwips an, aber noch nicht nach Komasaufen. Ebenso beim Bier. 0,25 Liter entsprechen einem Drink – 0,5 Liter Astra beim St. Pauli Spiel schleudern direkt 1,9 Drinks auf die Uhr.
Die offiziellen Grenzwerte für einen risikoarmen Konsum sehen wie folgt aus: Frauen sollten nicht mehr als 12 Gramm reinen Alkohol oder – anders ausgedrückt – einen Standard-Drink pro Tag konsumieren. Nach dem Geburtstags-Sekt der Kollegin ist also Schluss.
Bei Männern sollten 24 Gramm reiner Alkohol pro Tag nicht überschritten werden, das sind maximal zwei StandardDrinks – also ein großes 0,5-Liter-Bier. Sorry, Jungs, mehr gibt’s auch für euch nicht. Beide Geschlechter sollten an mindestens zwei Tagen pro Woche ganz nüchtern bleiben. Huch, haben meine Freunde und ich ein Alkoholproblem?
Alkohol als soziales Schmiermittel
Wieso fällt es uns so schwer, „Nein“ zu sagen? Alkohol entspannt, macht gute Laune, sorgt für einen lockeren Umgang. Schüchternheit ist nach zwei Gläsern überwunden, die Gespräche werden lauter, launiger, offener und ehrlicher. Man gibt ein Stück Kontrolle ab – und das macht Spaß.
Wir haben gelernt, dass man in schönen Momenten mit einem Glas Sekt anstößt. Und dass man auf Partys und Feiern trinkt, da man dann leichter mit anderen Menschen ins Gespräch kommt, ausgelassener tanzt und die angezogene Handbremse des Alltags loslassen kann. Alkohol markiert die vermeintliche Grenze von ernst zu fröhlich, vom Beruflichen ins Private.
Ich habe in den letzten Wochen darauf geachtet, wo mir die positive Darstellung von Alkohol noch begegnet und musste nicht lange suchen. In Serien und Filmen wird ständig getrunken, angestoßen und selbst in Kindersendungen war das schon so: Meister Eder und sein Pumuckl beispielsweise haben mir schon früh beigebracht, dass Bier ziemlich lecker schmecken muss. Meister Eder hat fast immer eine Flasche oder ein Glas in der Hand, selbst Pumuckl hat seinen eigenen kleinen Bierkrug.
Dann sind da noch all die lustigen GIFs, Sprüche und Memes rund um Alkohol, auch bei mir hängt an meiner Postkarten-Wand das Zitat „Ein Tag ohne Bier ist wie ein Tag ohne Wein“. Lustig, verharmlosend, gesellschaftlich anerkannt.
Als ich unter meinen Freunden herumgefragt habe, ob sie jemanden kennen, der keinen Alkohol trinkt, haben fast alle geantwortet: „Nein, ich hab nur AlkiFreunde“, dazu lachende Smileys. „Du säufst alle unter den Tisch“ wird als Kompliment aufgefasst. Wer nicht trinkt, fällt auf. Kurz: Wir leben in einer Welt, in der Alkohol zum sozialen Leben dazugehört.
Fakten, die nicht so gut schmecken
So lustig das alles auch ist, Alkohol vergiftet den Körper. Das sollten wir uns alle ab und zu ins Gedächtnis rufen. Das Krebsrisiko steigt, Bluthochdruck, Herzmuskel- und Leber-Erkrankungen, Übergewicht und Entzündungen der Magenschleimhaut oder Bauchspeicheldrüse können die langfristigen Folgen sein.
Kurzfristig sorgt Alkohol für Wahrnehmungs-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Die Koordination lässt nach. Die Selbsteinschätzung ist überhöht, die Gefahr von Unfällen und Verletzungen steigt.
Zudem zeigt eine Studie der University of Oxford, die dieses Jahr veröffentlich wurde, dass schon moderate Mengen Alkohol das Gehirn schädigen – es wurde ein Nervenabbau am sogenannten Hippocampus belegt. Hier sitzen Lang- und Kurzzeitgedächtnis sowie Gefühle, räumliche Orientierung und Sprachflüssigkeit. Tja, schade, dass Trinker diesen Fakt demnach schnell wieder vergessen.
Übrigens: Auch das „gesunde“ Glas Rotwein, das doch so gut fürs Herz sein soll, ist nicht mehr wissenschaftlich haltbar. Entsprechende Studien wurden widerlegt.
Lieber abstinen?
Je mehr ich recherchiere, desto weniger will ich trinken. Schnell merke ich aber auch, was das im Alltag bedeutet. „Wie, du willst nichts? Bist du schwanger?“, bekomme ich zu hören. „Nicht mal ein Gläschen?“ Man braucht eine Ausrede, um nicht zu trinken. „Ich muss noch fahren“, Schwangerschaft und Antibiotika gelten. Wer nichts davon erfüllt und keinen Alkohol trinkt, gilt als Sonderling.
Ich beginne, meine Verabredungen umzuplanen. Statt „was trinken zu gehen“ schlage ich KaffeeDates am Nachmittag vor. Statt Wein oder Bier zum Essen zu trinken, suche ich nach Alternativen. Ich bin froh, in einer Beziehung zu sein, denn beim Daten war ein Drink zum Auflockern fast unumgänglich. Eine ziemlich traurige Erkenntnis.
Und noch etwas fällt auf: Ich zögere, zuckerhaltige Getränke zu bestellen. Eine Fanta hat doch viel zu viele Kalorien. Bei alkoholischen Getränken habe ich mir nie Gedanken darum gemacht, dabei hat eine 0,33-Flasche Bier 139 kcal, ein Cocktail haut mit über 300 kcal rein. Drei Caipis und dann nachts einen Döner? Zack, 1600 kcal. Das entspricht fast dem Tagesbedarf.
Alkohol macht dick. Auch, weil er für nächtlichen Heißhunger sorgt.
Die Balance finden
Tja, was nun? Nie wieder einen Tropfen anrühren? Nein, für mich gehört das Glück des leichten Schwips’ ab und zu einfach zum Leben dazu. Und ich mag den Geschmack von einem guten Wein wirklich gern.
Allerdings werde ich sehr viel bewusster trinken. Ich werde keine schlechten Weine runterwürgen, keinen Schnaps mehr trinken, kein Bier bestellen, nur um mich an der Flasche festzuhalten.
Nicht trinken, um locker zu werden oder um Stress abzubauen, sondern weil ich den Drink wirklich mag und genieße. Man sollte Alkohol wirklich nicht sinnlos in sich hineinkippen.
Das Zauberwort ist ganz einfach: „Nein, danke.“ Probiert es mal aus. „Willst du ein Bier?“ – „Nein, danke.“ Wer ab und zu aussetzt, ein Wasser einschiebt, einen Abend nüchtern bleibt, verliert nicht gleich seine Freunde. Und wenn doch, ist die Freundschaft sowieso nicht viel wert. Mindestens drei Tage pro Woche komplett nüchtern bleiben. Und kein Rauschtrinken mehr. Das wird doch wohl zu schaffen sein! Seid ihr dabei?!
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Teste dich!
Dieser kurze Test ist der wissenschaftlich anerkannte CAGE-Fragebogen, der aus gerade mal vier Fragen besteht, die du ehrlich mit Ja oder Nein beantworten solltest.
Hast du jemals daran gedacht, weniger zu trinken?
Hast du dich schon einmal darüber geärgert, dass andere dich wegen deines Alkoholkonsums kritisiert haben?
Hast du dich jemals wegen des Trinkens schuldig gefühlt?
Hast du schon jemals morgens direkt nach dem Aufstehen Alkohol getrunken, um einen Kater loszuwerden oder dich nervlich zu stabilisieren?
Du hast zwei oder noch mehr dieser Fragen mit Ja beantwortet? Dann könnte ein Alkoholmissbrauch oder eine Abhängigkeit vorliegen. Lass dich am besten beraten!
Ausführlichere Tests findest du online unteranderem hier:
www.drugcom.de/selbsttests
www.rauschbarometer.de
www.kenn-dein-limit.de
Ein Interview über Alkoholismus mit dem Diplom-Psychologe Markus Gätje findet ihr hier!
Text: Anna Brüning
Fotos: iStock (4)
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