Die Nähmaschinen rattern, es duftet nach Kaffee und aus den Fenstern hat man einen perfekten Blick auf den Veringkanal. Im Stoffdeck in Wilhelmsburg entstehen seit 2016 Denim-Unikate, die nicht nur nachhaltig produziert sind, sondern auch Menschen mit Langzeitarbeitslosigkeits- oder Flüchtlingshintergrund eine Perspektive bieten. Die Gründerinnen Constanze „Conny" Klotz und Hanna Charlotte „Lotte" Erhorn beweisen mit ihrem Label, dass Upcyclin stylish und sozial sein kann!
Lotte und Conny (re.) von Bridge&Tunnel
Die Geschichte des Labels begann, als die promovierte Kulturwissenschaftlerin Conny im Rahmen der „Internationalen Bauausstellung" gemeinsam mit dem Träger Passage den Co-Working Space Stoffdeck mit Näh-Arbeitsplätzen und einer Textil-Handsiebdruckerei für Workshops und zur individuellen Nutzung auf die Beine stellte. Es gab nur ein Problem: „Ich kann selbst leider gar nicht nähen und hatte auch nicht wirklich Ahnung von Textildesign“, erzählt sie. „Deshalb suchte ich Unterstützung. Über Facebook meldete sich Lotte bei mir, die ich vorher auf einer Party kennengelernt hatte. Sie ist diplomierte Textildesignerin.“ It was a match! Zwei Jahre betrieben die beiden das Co-Working Space, wo mittwochs unter anderem ein deutsch-türkischer Nähtreff stattfand. „Irgendwann hatten wir einen Erweckungsmoment“, so Conny. „Die Näherinnen kreierten so tolle Produkte, waren so begabt, aber alle arbeitslos. Wir dachten uns: Da muss man was draus machen und diese kreative Fähigkeiten und Fertigkeiten aus ihren Heimatländern nutzen!"
- Social Empowerment
Mit einer Fundraising-Kampagne wurde der Start des Labels mit sechs Mitarbeitern finanziert. Zu Beginn waren nur Frauen im Team, die halbtags arbeiteten. Über das „Wilhelmsburger Wochenblatt“ hatten Lotte und Conny einen Aufruf gestartet und über 60 Bewerbungen bekommen. Mittlerweile hat Bridge&Tunnel sechs feste Teammitglieder: Asiye Yalcinkaya ist studierte Bekleidungstechnikerin, zuständig für Schnitte sowie Passform und begleitet das Produktionsteam als Anleiterin. Mandeep Kaur kommt aus Indien, wo sie in einer Näherei gearbeitet hat, und lebt seit 15 Jahren mit ihrer Familie in Deutschland. Sayed Mohabatzadeh flüchtete 2013 mit seiner Familie nach Hamburg aus dem Irak, wo der gebürtige Afghane als Herrenschneider gearbeitet hat. Dazu kommt Svetlana Beuttenmüller, die gebürtig aus Russland stammt und gehörlos ist. In Deutschland musste sie zunächst lernen, auf Deutsch zu gebärden. „Mit unserem Team verständigt sie sich aber problemlos über Lippenlesen oder Gebärdensprache!“, erzählt Conny. Außerdem im Team: Idowu Ogunleye, ausgebildete Schneiderin und Modedesignerin, die in Nigeria Besitzerin einer eigenen Boutique war, bevor sie vor 15 Jahren mit ihren Töchtern nach Deutschland kam. Gülsen Özer kam im Rahmen einer beruflichen Rehabilitation zu Bridge&Tunnel, ist ausgebildete Bekleidungstechnikerin und unterstützt seit 2019 im Overhead. Dazu kommen eine Werkstudentin für den Versand sowie mehrere Praktikanten.
Das Bridge&Tunnel-Team mit multinationalem Background besteht derzeit aus sechs festen Mitarbeitern, Praktikanten und einer Werkstudentin
Die festen Teammitglieder arbeiten in Teilzeitmodellen an 4 Wochentagen jeweils 5 Stunden. „Alle Mitarbeiter sind fest angestellt und erhalten tarifliche Löhne über dem gesetzlich geregelten Mindestlohn. Darauf sind wir besonders stolz", so Conny. „Unser Claim ‚We design society’ trifft unseren Anspruch sehr gut. Durch die Arbeit können wir den Selbstwert von Menschen, die hier in Deutschland mit gesellschaftlichen Handicaps leben, stärken. Auch unser Name bezieht sich nicht nur auf die Insellage unseres Produktionsstandortes Wilhelmsburg, den man über Brücken oder den Elbtunnel erreicht. Wir möchten Brücken in den Arbeitsmarkt bauen." Hinter den Endprodukten des Labels steckt neben der Design- und Näharbeit deshalb mehr: Denn „nebenbei“ sind Lotte und Conny für die Teammitglieder, die oft wenig Deutsch können, auch Ansprechpartner bei Behördengängen, helfen beim Übersetzen der Post vom Amt oder der Wohnungssuche. „Wir wollen Menschen empowern, sich auf die eigenen Beine zu stellen“, sagt Conny. „Ein Praktikant mit Flüchtlingshintergrund hat durch die Anstellung beispielsweise zuerst eine Arbeitserlaubnis und dann sogar eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen!“
Patchwork-Unikate in the making: Für die Design der Interior- und Fashion-Produkte werden alte Jeans zu neuem, stylischen Leben erweckt.
- Ethik trifft Ästhetik
Dass die Designs aus alten Jeans gefertigt werden, liegt daran, dass Denim ein sehr umweltschädliches Textil ist – und trotz seiner Langlebigkeit häufig schnell weggeschmissen wird. „Unser Denim Design entsteht aus sogenanntem postund pre-consumer waste, also Alttextilien und Materialüberschüssen. Wir haben Jeansstoff schon immer geliebt und machen jetzt eben aus den Filetstücken alter Teile neue Patchwork-Produkte“, erzählt Conny. Das Material stammt häufig direkt von der benachbarten Kleiderkammer Wilhelmsburg oder Hanseatic Help. „Die Designs sind uns super wichtig. Wir wollen, dass bei Bridge&Tunnel Ethik und Ästhetik zusammentreffen. Denn ohne ein schönes Produkt könnten wir wiederum nicht wirtschaftlich funktionieren. Nur so verhelfen wir wertvollen Materialressourcen zu einem neuen Leben in Style und hoffnungsvollen Talenten aus aller Welt zu einem erfüllenden Job mit Anerkennung.“ Und die Teile von Bridge&Tunnel sind wahre Lieblingsstücke! Die coolen Interior-Produkte wie Kissen, Plaids und Teppiche sind durch den Patchwork-Look absolute Unikate. Auch das Taschen-Sortiment vom Weekender sowie Rucksäcken über Turnbeutel und Kosmetiktaschen bis zu Clutches und Bauchtaschen hält für jeden Geschmack etwas bereit. Dazu kommt die Fashion-Linie mit Blousons und Sweatern sowie Handybändern und Schlüsselanhängern als Accessoires. „Das allgemeine Kollektions- und Trenddenken ist nicht nachhaltig. Wir achten deshalb immer darauf, zeitlose Produkte zu machen, die lange getragen und geliebt werden können“, so Conny. Für die Designs und die Arbeit des Labels wurde Bridge&Tunnel unter anderem 2018 mit dem „German Design Award“ ausgezeichnet und gewann 2017 den „Green Product Award“.
Bridge&Tunnel wurde 2018 mit dem „German Design Award“ ausgezeichnet.
- Über Nachhaltigkeit diskutieren
Neben dem Label haben Lotte und Conny auch eine eigene Diskussionsrunde zum Thema nachhaltiges Design und Slow Fashion ins Leben gerufen. Die Veranstaltungsreihe „Cut Up“ findet alle drei Monate in Hamburg mit spannenden Gästen aus den Bereichen Industrie, Handwerk, Forschung, Politik sowie mit Designern statt, um über Nachhaltigkeit zu sprechen. Auch im Mai gibt es wieder einen Termin! Nähere Infos gibt es auf Facebook oder im Mail-Newsletter. „Fair Fashion und nachhaltiges Design müssen unserer Meinung nach im Mainstream ankommen“, sagt Conny. „Und das ist nur möglich, wenn wir darauf aufmerksam machen, unter welchen schlechten Bedingungen normale Kleidung hergestellt wird – und Alternativen in Sachen Design, Technik und Produktion aufzeigen. Das Ganze ist ein Prozess, bei dem wir auch Vertreter von konventionellen Unternehmen mit an den Tisch holen müssen. Mode soll Spaß machen – aber nicht auf Kosten von Mensch und Umwelt.“
Ihr habt euren Kleiderschrank ausgemistet? Prima! Das Label nimmt gerne gewaschene alte Jeans an, die bestenfalls weniger als zwei Prozent Elstan Anteil haben.
- Neue Kollektion & Zukunftspläne
Für den Frühling ist bei Bridge&Tunnel derzeit eine neue Kollektion in Planung, die den Jeansstoff mit alten Segelstoffen kombiniert: „Der Mix aus Blau und Weiß wird so richtig schön sommerlich!“ Gerade sind die Gründerinnen außerdem dabei, das Stoffdeck in Wilhelmsburg zu renovieren, um dieses als Arbeitsplatz noch gemütlicher zu machen und die Fläche optimal zu nutzen. „Insgesamt ist unser Ziel, dass auch in Zukunft alle Erlöse in das Unternehmen fließen. So schaffen wir weitere Arbeitsplätze für gesellschaftlich benachteiligte Menschen. Und sichern die unseres jetzigen Teams."
- Storefinder: Hier bekommt ihr die Bridge&Tunnel Designs
Quiddje
Veringstr. 6c (Wilhelmsburg)
Walka
Ottenser Hauptstr. 31 (Ottensen)
Clou
Lehmweg 64 (Eppendorf)
Rosenblatt & Fabeltiere
Clemens-Schultz-Str. 43 (St. Pauli)
Mmies Studio & Shop
Heins-Hoyer-Str. 45 (St. Pauli)
Schön & Ehrlich
Gertigstr. 18 (Winterhude)
Werte Freunde
Großer Burstah 42 (Altstadt)
Captain Svenson
Bertelsstr. 2 (Sternschanze)
Rathauspassage
unter dem Hamburger Rathausmarkt (Altstadt)
Text: Lesley-Ann Jahn
Fotos: Bridge&Tunnel, Arfmann/baroquine.de, Christian Schulz Photography
Kanäle