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News aus Hamburg
KREATIVITÄT? KANN ICH!

Warum ihr lernen solltet, euer ganzes Hirn zu nutzen

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Comics malen, Podcasts aufnehmen oder sich coole Sprüche ausdenken: Es gibt unzählige Möglichkeiten, kreativ zu sein. Aber zu oft halten wir uns für fantasiebefreit und lassen uns von zu hohen Erwartungen bremsen. Dabei wird Kreativität nicht nur in fast jeder Stellenanzeige gefordert, sondern macht auch noch glücklich! Wir haben deshalb mit Experten gesprochen und verraten euch, wie ihr euren Ideenmuskel trainiert, was Instagram und Co. damit zu tun haben – und warum die Zukunft den Kreativen gehört.

Wenn Alexander Baron sich auf eine Sache verlassen kann, dann die: Eine Idee ist immer da. Als Werbetexter bei der PR-Agentur Grabarz und Partner lässt sich der Nienstedter für seine Kreativität bezahlen. Ein Traumjob, um den ihn viele beneiden würden. Schließlich zeigen unzählige Studien, darunter eine vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: Kreativ sein macht glücklich. Aber mehr noch, in der Arbeitswelt geht es scheinbar nicht mehr ohne.

Ob bei Textern wie Baron oder bei Ingenieuren: In jeder zweiten Stellenanzeige werden „Querdenker“, „eine lösungsorientierte Arbeitsweise“ oder „innovative Denker“ gesucht. Unternehmen haben den Wert origineller Ideen erkannt. Damit sie öfter auf neue Ideen kommen, erlaubt Google seinen Mitarbeitern angeblich, 20 Prozent der Arbeitszeit an ihren eigenen Projekten zu tüfteln. Ohne gute Gedanken keine neuen Produkte, kein Fortschritt – und kein Geld.

Wer denkt, das Ganze sei nur ein Hype, irrt sicht gewaltig: Laut Ökonomen könnten bald sehr viele Berufe verschwinden, nach manchen Schätzungen sogar die Hälfte. Das betrifft vor allem Routine-Jobs. Was vielleicht bleibt? Richtig: Berufe, bei denen Problemlösung und innovatives Denken gefragt sind. Es ist Zeit, dass wir uns mit dem Thema beschäftigen. Was ist Kreativität eigentlich? Wie misst man sie? Ist wirklich jeder kreativ, wie so viele Zeitschriftenartikel behaupten? Und wenn nicht, können wir es noch werden? 

„Unglaublich viele Menschen denken, sie seien nicht kreativ“, sagt Alexander Baron, der neben seiner Arbeit als Texter Ideenfindung an der Texterschmiede in Hammerbrook unterrichtet. „Aber jeder, der auf Instagram einen anderen Filter ausprobiert oder ohne Rezept kocht, macht einen Schritt in die richtige Richtung. Natürlich ist es Alltagskreativität, aber es geht um nichts anderes: Den Mut, Neues auszuprobieren“.

 

Alexander Baron, Werbetexter

Wird Kreativität zum Klischee?
Früher war Kreativität so exklusiv wie die Geburtstagsparty von Beyoncé. Ein Mozart oder ein Da Vinci waren die wenigen glücklichen Produzenten eigener Ideen, alle anderen mussten sich mit einer meist bescheidenen Existenz auf dem Bauernhof oder in der Fabrik begnügen. Lange herrschte der Glaube, Kreativität käme von Göttern oder, je nach Epoche, auch vom Teufel – so oder so eine Rarität.

Heute ist Kreativität überall und bereits zum Klischee verkommen: An jedem Ort, wo es frischen Kaffee gibt, sitzt mindestens ein Laptop-Kreativer. Unzählige Menschen teilen ihre Ideen mit der Welt, sie posten ihre Outfits, drehen Videos von sich selbst oder fotografieren die Alster. Der Wert dieser Schöpfungen mag nicht immer ersichtlich sein – ob euer letztes Shopping-Haul-Video wirklich die Welt bereichert, sei dahingestellt. Fakt ist: Aus dem Nichts etwas zu erschaffen und es der ganzen Welt zu zeigen, ist seit einigen Jahrzehnten technisch möglich und erschwinglich für so ziemlich jeden. Und doch sitzen viele von uns auf unseren Hintern, lassen uns von unserer Handysucht durch den Tag lotsen und denken: „Ideen? Habe ich nicht.“

Hirn an, Druck raus
Vom Hamburger Hirnforscher und Psychologen Dr. David Scheffer erfahren wir: Die Kreativität „sitzt“ auf der rechten Seite, im sogenannten präfrontalen Cortex, wo unser Verhalten intuitiv gesteuert wird und unser Belohnungszentrum sitzt. Ein Bild zu malen, einen Text zu schreiben oder eine Melodie zu spielen macht unserem Gehirn genauso viel (oder noch mehr) Freude, wie ein fantastisches Stück Kuchen zu verspeisen. Nun gut, Kuchen essen kann jeder, aber können normale Menschen, die bisher nicht mit ungewöhnlichen Leistungen aufgefallen sind, wirklich kreativ sein?

„Das geht“, sagt Scheffer, „wenn man lernt, beide Gehirnhälften zu benutzen.“ Die linke Gehirnhälfte ist bei uns eher für das analytische und strukturierte Denken verantwortlich, also: rechnen, Hausarbeiten schreiben und trockene Sachverhalte lernen. Die rechte ist für das Intuitive zuständig. Idealerweise arbeiten beide zusammen. Geistesblitze kommen meist intuitiv aus dem Bauch, doch vorher beschäftigen wir uns oftmals intensiv mit einem Thema. Und später brauchen wir die analytische Hirnhälfte für die Bewertung und auch die Umsetzung unserer Ideen. Doch hier gibt es oft eine große Lücke.

Wissenschaftler wie der Neurologe Gerald Hüther kritisieren, dass wir bereits in der Schule an unseren natürlichen Begabungen vorbei lernen. In der Schule geht es meist darum, keine Fehler zu machen. Die ständige Bewertung bremst den Drang, Neues auszuprobieren – die Gefahr der schlechten Noten ist zu groß. Als Kreativer sollte man den Mut haben, auch mal daneben zu liegen. Der wird uns aber gründlich abtrainiert.

Als Resultat sind wir viel geübter darin, mit der linken Hälfte zu arbeiten als mit der rechten. Wir kennen das ja: Es ist einfacher, eine Idee zu kritisieren, als selbst eine zu haben. Und das ist das Problem: Unser innerer Kritiker lässt den Ideenfluss oft gar nicht zu. Selbst wenn wir manchmal kurz daran denken, wie es wäre, unseren eigenen Schmuck zu designen oder einen Roman zu schreiben, meldet er sich oft und sagt: „Das wird eh nichts.“ Und wir langweilen uns weiter in unserem Nebenjob sowie unserem vernünftigen Studium und warten bis zur Rente, um uns zu verwirklichen.

Aber ist es möglich, seine rechte Gehirnhälfte wieder zu „aktivieren“? „Es gibt natürlich ganz analytische Typen, die das gar nicht wollen. Aber die Gehirn-Plastizität ist da – auch als Erwachsener kann man das lernen“, sagt David Scheffer. Wenn wir uns nur trauen würden. Um zu messen, wie kreativ jemand ist, haben sich Forscher beispielsweise den Brick-Test ausgedacht, bei dem man in kurzer Zeit möglichst viele Verwendungszwecke für einen Ziegelstein finden muss.

Das Problem dabei: Kreativität wird mit schnellem Denken gleichgesetzt. Und das passt sehr gut zu dem Bild von einem Kreativen, das viele von uns haben – diejenigen, die schnell gute Ideen haben, in einem Rutsch einen Roman schreiben oder mal eben ein großartiges Bild auf die Leinwand werfen. Jedoch haben die Kreativen, die das können – wenn es die überhaupt gibt – uns meist sehr viel Übung voraus. Wenn wir uns daran messen, ist es kein Wunder, dass wir entweder frustriert sind oder gar nicht erst anfangen.

Jutta Rath, Kreativ-Direktorin

Mehr als ein Geistesblitz
„Die ersten, schnellen Ideen sind oft nicht besonders originell“, sagt Alexander Baron. Man denke nur an das berühmte Zitat von Ernest Hemingway: „The first draft of everything is shit.“ Und der Mann hat einen Nobelpreis gewonnen. „Kreativität muss nicht schnell sein“, sagt Jutta Rath, die lange Zeit als Kreativdirektorin bei großen Agenturen wie Edelmann gearbeitet hat und seit Jahren Kreativ-Workshops in Ottensen veranstaltet.

„Es gibt viele, die ihre Zeit brauchen, um auf eine richtig gute Idee zu kommen.“ Wie der deutsch-australische Autor Markus Zusak, der seinen 2005 erschienenen Bestseller „Die Bücherdiebin“ sage und schreibe 200 Mal überarbeitet hat. Oder J.K. Rowling, die als Kind schon Geschichten über Kaninchen verfasste, lange bevor ein bebrilltes Waisenkind in ihrem Kopf auftauchte. Zu oft assoziieren wir Kreativität mit Heureka-Momenten, plötzlichen Geistesblitzen. Doch meist war da vorher viel Nachdenken und viel Praxis.

Aber warum sollten wir uns überhaupt die Mühe machen, herauszufinden, was uns antreibt und kreativ macht? Weil es die Berufe, für die wir heute ausgebildet werden, morgen vielleicht nicht mehr geben wird. Der wohlmeinende Rat so mancher Eltern, wir sollten doch „was Vernünftiges“ mit unserem Leben machen, ist nicht mehr ganz aktuell, wenn Großkonzerne wie Google lieber Hobby-Hacker statt Uni-Absolventen einstellen.

Möglicherweise übernehmen Roboter die gesamte Arbeit, schließlich können sie heute schon Dinge transportieren, Diagnosen stellen, unsere Oma pflegen und gegen Weltmeister im Schach gewinnen. Falls es für uns bald nichts mehr zu tun gibt – wollen wir da etwa den ganzen Tag Serien gucken? Oder vielleicht die Chance ergreifen und endlich das tun, was uns wirklich erfüllt?

Wir haben keine Ahnung, wie die Welt in fünf Jahren aussieht. Eins jedoch ist sicher: Auswendiglernen, Schema F und Dienst nach Vorschrift werden sich nicht als besonders nützlich erweisen. Ganz zu schweigen davon, dass uns das nicht glücklich macht. Wer aber an etwas Spaß hat – für den fühlt sich auch anstrengendste Arbeit nicht wie Arbeit an. Ganz am Anfang hilft es, an seiner Einstellung zu arbeiten: „Der Glaube an die eigene Kreativität ist wichtig“, sagt Jutta Rath.

Das ergab auch eine im Fachjournal „PlosOne“ veröffentlichte Studie: Studenten, die in drei Gruppen eingeteilt waren, bekamen eine kreative Aufgabe. Dabei sollte sich die erste Gruppe in kreative Dichter hineinversetzen, die zweite in Bibliothekare, die dritte hatte keine Vorgabe. Und siehe an: Die Dichter hatten deutlich mehr Ideen als die Bibliothekare und die anderen. Manchmal braucht es eben nur eins: Die Erlaubnis, kreativ zu sein.

Zu unserem Interview und Tipps für mehr Kreativität gehts hier lang! 

Text: Natalia Sadovnik
Fotos: Tim Gerdts Photography (1), privat (1)

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