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News aus Hamburg
SELBSTTEST

Mein blindes Abenteuer durch Hamburg

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Ich neige meinen Kopf in den Nacken und spüre die Sonne. Doch vor meinen Augen bleibt es dunkel. Einen Augenbinde verdeckt meine Sicht – ich wage einen Selbsttest. Heute werde ich die Hamburger Innenstadt blind entdecken.

Mein Arm ist eingehakt bei Christian Ohrens. Seit 2016 bietet der 34-Jährige die Stadtführung „Blind durch Hamburg“ an. Er kann seit seiner Geburt nicht sehen. „Früher arbeitete ich beim Dialog im Dunkeln“, sagt er. „Viele Besucher fanden es schade, dass man die Touren nicht in der Stadt erleben kann. Das war mein Anstoß!“ Heute führt er mich durch die Innenstadt. Neben den Stadtführungen ist Christian als freier Journalist und Blogger aktiv und testet unter anderem, inwiefern Freizeitparks und Kirmesattraktionen uneingeschränkt genutzt werden können. „Damit leiste ich quasi Pionierarbeit, denn derartige Erhebungen gibt es bislang noch nicht.“ Mein Herz pocht wild. Ich verlasse mich eigentlich immer auf meinen Sehsinn. Doch nun beginne ich, mit einem Blindenstock und einer Augenbinde durch die Wandelhalle zu laufen. Mir fehlt jede Orientierung. Mein ständiger Begleiter: Angst. Angst hinzufallen oder gegen einen Passenten zu stoßen. Zwei Mal laufe ich jemandem in den Rücken. Christian dagegen findet im Weg stehende Fahrräder viel lästiger. Ich frage ihn, wie er die Barrierefreiheit in Hamburg bewertet. „Besser geht immer, aber ich tue mich mit solchen Fragen schwer. Es ist Ansichtssache, wie man Barrierefreiheit auslegt. Wichtiger finde ich die Barrierefreiheit im Kopf. Wir alle sollten endlich aufhören, in Problemen zu denken.“ In seiner Freizeit geht Christian ganz normalen Hobbys nach: „Es gibt so viel, was ich gerne mache. Reisen, Filmen oder Fotografieren. Ich gehe gern ins Kino, lese ein gutes Buch, treffe Freunde und bin in Hamburg unterwegs. Wenn es die Buchungslage hergibt, lege ich als DJ bei privaten Veranstaltungen auf.“

  • Wie überquere ich blind eine Straße?

Wir verlassen die Wandelhalle Richtung Spitalerstraße. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Ein paar Schritte noch, dann stehen wir an der Ampel. Kein tack tack zu hören. Woher weiß ich, wann grün ist? Plötzlich zieht mich Christian mit sich. „Versuch auf die anderen Leute zu achten und zu spüren, wann sie sich in Bewegung setzen. Dann nicht zögern“, rät er mir. Angestrengt lausche ich: Doch es bleibt ein Gewusel von Gesprächsfetzen und Schuhklackern. Den Stock wische ich zu eng vor meinen Füßen hin und her – und stoße gegen ein Fahrrad. Als visuelle Stütze baue ich aus meiner Erinnerung die Läden der Spitalerstraße auf. Mein Herz schlägt ruhiger. Doch als wir uns in ein Café setzen wollen, bleibt mein inneres Bild schwarz. Beim Bestellen habe ich das Gefühl in die falsche Richtung zu sprechen. Zum Glück führt uns der Barista zum Tisch. Dort werde ich entspannter und höre nur Christians Stimme. Seine Mimik nicht zu sehen, fehlt mir weniger als gedacht. Dafür achte ich stärker auf die Tonlage. „Ich war nie der Typ dafür, mich nur in meinem geschützten Bereich zu bewegen“, erzählt Christian. „Deshalb reise ich viel durch Europa, ohne eine Person, die mich herumführt. Das macht ein Sehender ja auch nicht!“ Beim Verlassen des Cafés fühle ich mich sicherer als zum Tour-Beginn. Den Stock schwinge ich auf dem Rückweg großflächiger vor mir her und umgehe Stolperfallen. An der Bushaltestelle angekommen, verabschiede ich mich von Christian. Ich nehme die Augenbinde ab, den Stock gebe ich zurück. Ich sehe wieder – und dafür bin ich dankbar.

Das Interview ist Teil unseres Artikel „Hamburgs neue Barrierefreiheit“.

Text: Roxanna Kaufmann
Foto: Buske

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