Die Idee einen Selbsttest zu machen klingt gut, meinte die Redaktion zu mir. Und bis zu dem Moment, als mein Wecker am Montagmorgen um 5:30 Uhr klingelt, bin ich gleicher Meinung. Jetzt liege ich im Bett und kann dem angepriesenen Miracle Morning keinen Funken Magie abgewinnen. Der dunkle Morgen ist noch nicht einmal in seinem schönsten Grau angekommen, aber wartet bereits mit klassischem Nordwetter auf mich: Feinster Nieselregen und mäßiger Wind. Gute Gründe jetzt aufzustehen fallen mir keine ein. Das Konzept des Miracle Mornings stammt vom US-Amerikaner Hal Elrods und fußt auf dem Gedanken, dass sich jeder Mensch eine Stunde vor dem eigentlichen Start in den Tag Zeit für sich selbst nehmen soll. Zeit, um auf die eigenen Bedürfnisse einzugehen und mehr Zufriedenheit zu erlangen. Die Idee dieses Morgenrituals entwickelte der 39-jährige Bestsellerautor nach einem schweren Autounfall, bei dem er nur knapp einer Querschnittslähmung entging. Das Ziel: Selbstmotivation, Inspiration, Stille und anregende Impulse sollen in den ruhigen Minuten des noch jungen Tages die persönliche Entwicklung fördern.
Selbstbestimmt statt reaktiv starten
Mein Fazit des ersten Tagse: Experiment fehlgeschlagen. Ich konnte mein Gehirn nicht mal davon überzeugen aufzustehen. Zu schnell kreisten die Gedanken um die Frage, was ich mit der Stunde eigentlich anfangen soll. Ein Anfängerfehler. Denn ohne minimale Vorbereitung tendieren die Erfolgschancen gen Null. Es ist wie mit der Überwindung ins Fitnessstudio zu gehen: Der innere Schweinehund wird am besten überlistet, indem man die Sporttasche schon mit in die Uni oder ins Büro nimmt. Und wenn sie dann schon den ganzen Tag herumgetragen wurde, kann sie auch genutzt werden. „Wer sich und sein Leben verbessern will, dem helfen die richtigen Routinen“, erklärt auch Sabrina Haase, Geschäftsführerin und Coach vom Performance Institute DynaMe aus Eimsbüttel. „Der Morgen bietet sich optimal an, da er wie ein Neuanfang wahrgenommen wird. Diese Energie positiv zu nutzen, ist durchaus sinnvoll für den weiteren Verlauf des Tages. Denn ob ich mit einem positiven oder negativen körperlichen und psychischen Befinden starte, hat einen enormen Einfluss auf meine Zufriedenheit und Effektivität“, so die Expertin. „Nach der Idee des Miracle Mornings starte ich den Tag selbstbestimmt statt reaktiv. Ich nehme mir Zeit für eine gewählte Aktivität, die mir guttut, mich besser fühlen lässt und mich effektiver macht.“ Somit wäre vor dem zweiten Tag die Frage zu klären: Was möchte ich persönlich überhaupt erreichen?
Sabrina Haase, Geschäftsführerin und Coach vom Performance Institute DynaMe
Das eigene Ich kennenlernen
Ratgeberautor und Psychologe Tom Diesbrock aus Ottensen rät: „Eine Kombination aus Bewegung, Innehalten, Meditation und Tagesplanung macht wach und stärkt unsere Selbstwirksamkeit – also die Haltung, Einfluss auf das eigene Leben zu haben und das Selbstmanagement für den Tag anzugehen.“ Für mich ist es also ein kleiner Erfolg, als ich an Tag 2 um 5:30 Uhr auf meiner Bettkante sitze und mit einem leichten Anflug von Stolz vor meiner eigentlichen Aufstehzeit den ersten Kaffee trinke. Und das freiwillig. Die zusätzliche Stunde nutze ich dann, um den bevorstehenden Tag zu strukturieren. Außerdem schreibe ich kleine To Do-Listen für die nächsten Morgenrituale und antworte entspannt auf längst überfällige Nachrichten von Freunden, statt diese wie sonst hektisch in der U-Bahn ausschließlich in Kleinbuchstaben zu versenden. Es ist ein kleiner Schritt, doch das gute Gefühl bereits Kleinigkeiten erledigt zuhaben, macht sich tatsächlich bemerkbar.
Tom Diesbrook, Ratgeber und Psychologe
Selbstwirksamkeit nutzen
Die konkrete Überlegung, wie ich den Morgen effektiv für mich nutze, erleichtert das Aufstehen erheblich. An Tag 4 und 5 wage ich es sogar Grenzen zu überschreiten: Noch vor 6 Uhr stehe ich am Hafen und lasse mir den verdammt kalten Wind um die Nase wehen. Gut, es braucht nur wenige Gehminuten, da der Hafen fast vor meiner Haustür liegt – aber umso bewusster wird mir an diesem Morgen, dass ich diesen kleinen Rückzugsort zu lange außer Acht gelassen habe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal allein mit einem selbstgemachten Kaffee in der Hand auf das Wasser geblickt und den Kopf ausgeschaltet habe. Die morgendliche Stille kann ich jetzt in vollen Zügen genießen. Einfach nur da sein, nichts denken, nicht reden. Ich fühle mich gestärkt. Coach Sabrina Haase erklärt diesen Zustand: „Auf psychologischer Ebene wirken sich alle selbstbestimmten Aktivitäten positiv auf unsere Selbstwirksamkeitserwartung aus. Wenn wir bereits morgens erleben, wie wir selbstbestimmt unsere Pläne erfolgreich umsetzen, steigert dies unsere Überzeugung auch für die Erreichbarkeit anderer größere Lebensziele.“
An Tag 6 steht Constantin Jacob um 6 Uhr mit einem Kaffee in der Hand an der Elbe – und schaltet den Kopf in der morgendlichen Stille einfach mal aus.
Bedürfnisse und Ziele reflektieren
Nach einer Woche bin ich überzeugt davon, dass ein Kurzexperiment wie meine Miracle Morning-Woche sicherlich der notwendige Keim sein kann, aus dem ein überzeugter Glaube an mich selbst wächst. Doch ich frage mich auch, ob die Stunde vor dem eigentlichen Aufstehen im Laufe der Zeit nicht zwangsläufig in den regulären Tagesablauf integriert wird. Bleibt der Morgen dann noch „ein Wunder“? Psychologe Tom Diesbrock fasst zusammen: „Generell ist es ein gutes Vorhaben, mit Zielen und Besinnung den Tag zu beginnen. Doch noch wichtiger ist es, kleine Schritte in den Alltag zu integrieren und daraus Gewohnheiten zu entwickeln.“ Um ehrlich zu sein, ist mir die Umstrukturierung des Alltags ein deutlich angenehmeres Herangehen als dauerhaft auf eine Stunde Schlaf zu verzichten. Weniger den Alltag dominieren lassen und mehr das eigene Ich in den Vordergrund stellen. „Immer locker bleiben“, würden meine Eltern das wahrscheinlich nennen. Für mich bedeutet das unter anderem nach der Miracle Morning-Woche, meinen alten neuentdeckten Rückzugsort an der Kaimauer wieder öfters zu besuchen. Ganz egal, ob mit einem Morgenkaffee oder einem Feierabendbier.
An Tag 3 liest unser Autor Constantin Jacob bereits morgens ein Buch, wozu er sonst keine Zeit gehabt hätte
- Eine Stunde – viele Möglichkeiten
So gestaltest du dein persönliches Morgenritual noch individueller und effektiver!
Die Basis
„Hal Elrod“ Podcast: Wer könnte eine Idee besser erläutern als der Erfinder selbst? Der Bestsellerautor spricht mit Experten über das Morgenritual 2.0, Persönlichkeitsentwicklung und die Chance selbst Einfluss zu nehmen.
Starthilfe
„Hören Sie auf, sich im Weg zu stehen“: Der Psychologe und Coach Tom Diesbrock aus Ottensen verrät in seinem Buch, wie mentales Selbstmanagement im Alltag die Frage nach dem „Was will ich eigentlich?“ löst.
Dranbleiben
Goalify App: Wem das einfache Abhaken von To Do-Listen zu langweilig ist, der sieht seine Erfolge und neuerlernten Routinen hier in modernen Diagrammen und knackigen Analysen aufbereitet. So macht Fortschritt Spaß!
Für Fortgeschrittene
„Holistic Development“ MeetUp: Die Hamburger Gruppe trifft sich in regelmäßigen Abständen in den eigenen Seminarräumen im Elbberg und klärt Fragen der Persönlichkeitsentwicklung. Hier kannst du dich mit Gleichgesinnten austauschen und erfahren, wie ein strukturiertes Ich deinen Job und dein Privatleben bereichert.
Text: Constantin Jacob
Fotos: Lamann (4), privat (1), Raabe (1)
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