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News aus Hamburg
SINGLE SEIN ALS LEBENSGEFÜHL

Sind wir die „Generation Beziehungsunfähig"?

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Was stimmt denn nicht mit uns? Sind wir wirklich eine verkorkste Generation, die nur an sich selbst denkt und sich durch Tinder vögelt? Unsere Autorin Anna Brüning hat sich gefragt, warum es uns heutzutage eigentlich so schwer fällt, uns festzulegen!

Als Michael Nast im Online-Magazin „im gegenteil“ über die „Generation Beziehungsunfähig“ schrieb, schlug sein Text ein wie eine Bombe – jeder teilte ihn auf Facebook, tausende Leser erkannten sich wieder. Der Berliner Autor, der letztes Jahr bereits mit seinem Buch „Ist das Liebe oder kann das weg?“ ein Lebensgefühl einfing, brachte auf den Punkt, was schon lange Gesprächsthema unter Freunden war: Das mit der großen Liebe ist echt schwierig geworden. Aus seinem Artikel machte Michael Nast ein Buch, seine Lesung im Audimax der Uni Hamburg am 24. Februar hatte bereits Anfang Januar fast 12.000 „Interessiert“-Klicks bei Facebook. Er hat einen Nerv getroffen.

Dabei finde ich diese „Generation...“-Kategorisierungen eigentlich unsinnig. Man kann schließlich nicht alle über einen Kamm scheren. Und doch passiert es mir immer wieder, dass ich mich mit Freundinnen darüber unterhalte, wie sich das Single-Leben verändert hat. Tinder, Lovoo und Co. sind auf Smartphones von Singles fast schon vorinstalliert. Wie konnte es mit dem „Daten“ soweit kommen? Allein dieses Wort. Früher lernte man sich kennen. Heute „tindert“ und „datet“ man. Unverbindlicher, beliebiger. Fast alle Frauen in meinem Umfeld erzählen, dass ihnen oft Männer begegnen, die sich nicht binden wollen, sogar wenn sie schon um die 30 sind. Vor 10, 15 Jahren dachten wir, dass das ein Alter sei, in dem man längst verheiratet ist. Und jetzt feiern wir immer noch auf WG-Partys, trinken einen etwas teureren Wein aus Gläsern statt billige Wodka-Mischen aus Plastikbechern – ansonsten hat sich wenig geändert.

Wir leben ein selbstbezogenes Leben, streben nach Karriere, Spaß und Perfektion. Familie? Vielleicht später. Wir haben so viele Optionen, dass wir uns ungern festlegen. Das „Ich“ steht vor dem „Wir“. Und schon muss ich zugeben, dass es vielleicht stimmt. Wir sind die „Generation Beziehungsunfähig“. Oder zumindest die „Generation Beziehungsunwillig“.

Du kannst alles sein!

Wir sind mit dem Gedanken aufgewachsen, alles erreichen zu können. Werde Bundeskanzler, Marathonläufer, Pilot, Künstler, Philosoph. Tu, was du liebst! Probiere dich aus! Klingt großartig. Und dann stehen wir nach dem Abi vor all diesen Möglichkeiten und probieren uns eben aus: Wechseln nach fünf Semestern den Studiengang. Gehen ins Ausland. Legen uns nicht fest. Es ist diese Freiheit, die gleichzeitig motivieren und erschrecken kann. Immer weiter von Job zu Job tingeln? Niemals irgendwo ankommen? Mit 40 noch berufliche Unsicherheit spüren? Immer wieder und wieder von vorn anfangen? Klingt verdammt anstrengend. Andererseits: Wir müssen niemals in verhassten 9-to-5-Jobs festhängen, wir können gründen und unser eigener Chef sein, wir dürfen unsere Ideen verwirklichen, Leidenschaften leben, Hobbys zum Beruf machen. Wer sich eine Festanstellung mit fixen Arbeitszeiten und ohne Firmenhandy wünscht, wird schief angeguckt. Das hat die Generation vor uns gewollt. Wir können es doch besser! Volle Flexibilität, Vertrauensarbeitszeiten und Homeoffice sind die Stichworte „du jour“. Wegen der Work-Life-Balance – ihr wisst schon.

Work-Life-Balance? Bullshit! Leben und Arbeit sind gerade wegen dieser Flexibilität längst verschmolzen. Wir definieren uns über unseren Beruf. Gerade in Großstädten wie Hamburg oder Berlin ist es völlig normal, sich bis Mitte 30 erst einmal „ganz auf die Karriere“ zu konzentrieren. Sich auszuleben, Erfahrungen zu sammeln, in jeder Hinsicht. Jeder will „besonders“ sein, beruflich und privat, besonders viele Follower, Klicks oder Freunde haben. Voll im Jobaufgehen. Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass „YouTuber“ ein Beruf sein kann?Das Private wird öffentlich. Wir fotografieren unser Essen, messen unser Ego an den Likes für das neue Facebook-Profilbild und tweeten unsere Gedanken in die Welt, statt sie unseren Freunden zu erzählen. Wir kreieren neue Berufe, indem wir unser Leben zum Job machen. Das Ich steht im Mittelpunkt. Der Mensch wird zur Marke. Der Narziss in uns wird von zig Social Media Kanälen herausgekitzelt.  

So viele Optionen...

Zugegeben: So schlimm ist das ja alles gar nicht. Es macht Spaß. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir unser Leben so führen können, wie wir es wollen. Unsere Traumjobs gestalten wir uns selbst, sind von niemandem abhängig und vermeiden so finanzielle und emotionale Desaster. Viele Soziologen nutzen auch den Begriff der „Generation Y“ oder „Generation Millennials“ für all die, die rund um die Jahrtausendwende zwischen 1990 und 2010 Teenager waren. Das sind wir. Wir haben Finanzkrisen und Terroranschläge erlebt, finden es ganz normal, Praktikas zu machen und befristete Verträge zu bekommen. Wir wissen, dass das Leben unsicher und nicht planbar ist, dass die Gradlinigkeit der Lebensläufe unserer Eltern nicht mehr umsetzbar ist. Wir improvisieren und schaffen uns neue Wege.

Unsere Möglichkeiten sind so grenzenlos, wie es noch keine Generation vor uns erlebt hat. Wir können tun, was gut tut und Spaß macht. Da eh nichts sicher ist, tun wir das auch. Leben den Moment. Gehen keine Kompromisse ein. Und ständig kommen neue Optionen hinzu, vor allem, wenn man in einer Großstadt wie Hamburg lebt, in denen so viele interessante Menschen, Läden und Partys zu finden sind. Ob im Job oder im Privaten, es geht immer noch ein bisschen mehr. Auf einem kleinen Dorf sind die Leute nicht ständig mit den nicht gelebten Optionen konfrontiert – dort gibt es eben nur eine Dorfdisco und die Freizeitmöglichkeiten sind viel eingeschränkter. In Hamburg hingegen ist immer etwas los und wir haben täglich das Gefühl, dass wir etwas verpassen könnten. Neueröffnungen, Premieren, Partys, Flohmärkte, Blogger-Events, Hipster-Trends. Ständig treffen wir Gründer und Kreative, die uns zeigen, dass wir mehr aus unserem Leben machen könnten. Und schnell ist das, was wir haben, wieder nicht gut genug. Bloß nicht den nächsten Hype verpennen.

K(l)icks für die Eitelkeit

Das ständige Streben nach Selbstoptimierung überträgt sich auch auf unsere Beziehungen. „Ob es nun das neueste iPhone ist oder ein Mensch, der etwas für einen empfindet. Es schmeichelt unserer Eitelkeit, mehr nicht. Letztlich haben wir verlernt, uns selbst zu lieben. „Wir verwechseln Selbstliebe mit Narzissmus“, schreibt Michael Nast dazu in seinem aktuellen Buch „Generation Beziehungsunfähig“.

Und auch Dating-Apps sorgen für die Eitelkeit-Kicks. Es ist wie im Onlineshop: Es gibt ständig Neues, was besser und schöner scheint. Statt sich auf eine Person zu konzentrieren, uns auf sie einzulassen, sie kennenzulernen, suchen wir weiter, matchen, flirten, daten. Wir füllen den Warenkorb, und schauen mal, ob wir etwas behalten oder alles wieder zurückschicken. Nein, Tinder und Co. sind nicht die Ursache unserer Bindungsunwilligkeit. Aber sie unterstützen das Gefühl, alles haben zu können. Wisch, wisch, wisch. Ein neues Date, ein neuer Flirt, ein paar Drinks, vielleicht geht man zusammen nach Hause. Ohne Stress. Wenn es nicht perfekt ist, zieht man weiter. „Kostenlose Retoure“, auch im Liebesleben. Und dann: wisch, wisch, wisch, das ganze nochmal. Tindern ist einfach. Es schafft kleine Erfolge, gibt unserer Eitelkeit einen Kick. Wir müssen nie allein sein. Aber es geht viel mehr um uns selbst als um die Menschen, mit denen wir schreiben oder mit denen wir uns treffen.

Auf Fehlersuche

Je länger wir tindern, desto härter werden wir. Wir suchen nach Fehlern. Ja, auch im Club sortieren wir optisch, wer in Frage kommt und wer nicht. Aber Tinder ist krasser. Im Club merkst du vielleicht: Der heiße Typ ist total blöd. Aber sein Kumpel, den man auf den ersten Blick uninteressant fand, entpuppt sich als humorvoller, cleverer Mann, der auf den zweiten Blick eigentlich auch optisch ganz süß ist. Den hättest du in der App weggewischt. In Apps sind wir erbarmungslos. Komische Nase. Arrogantes Spiegel-Selfie. Alles Gründe, auf das X zu tippen. Wir wollen den perfekten Partner. Keine Kompromisse. Wieso sollte ich eine komische Nase akzeptieren, wenn ich noch 50 Matches mit einer perfekten Nase habe? Es gibt doch viel zu viel zu entdecken, niemand muss sich mit etwas Halbgarem zufriedengeben. Dann wird auch der humorvolle, clevere Mann aus dem Club schnell wieder Nebensache, weil in der Handtasche doch noch so viele Matches und nette Chats schlummern, die vielleicht humorvoll, clever und wunderschön, also absolut perfekt sind! Schwachsinn.

Fragt doch mal eure Eltern, Großeltern und all die vermeintlich überglücklichen Paare in eurem Umfeld, ob sie in ihrem Partner den perfekten Menschen sehen, ohne Kompromisse, bei dem alles stimmt. Wahrscheinlich kennt ihr die Antwort schon: Nein. Niemand ist perfekt. Wir haben alle Spleens, schlechte Angewohnheiten und passen nie perfekt zusammen.

„Manchmal hasse ich ihn so sehr“, sagt meine Freundin Martina über ihren Freund. Sie sind für mich das glücklichste Paar der Welt. Sie lächelt, wenn sie diesen Satz sagt. Weil sie ihn noch viel häufiger liebt, als dass sie ihn hasst. Weil er ihr Anker in dieser verrückten Stadt ist. Und zu diesen leidenschaftlichen Gefühlen nur fähig ist, weil es niemanden gibt, der ihr so wichtig ist, der sie so gut kennt und den sie so sehr braucht. Wenn wir uns öffnen, machen wir uns verletzlich, emotional und angreifbar. Und wir werden verletzt, wir werden emotional und wir werden angegriffen. Garantiert. Aber nur so können wir lieben. So richtig. Mit Haut und Haaren, ohne Mauern um unsere Herzen. Wer sich niemals öffnet, sich niemals ganz auf jemanden einlässt, wird auch nie dieses ganz große Gefühl spüren.

Vor einem Regal voller Marmeladensorten

Aber es ist kein Wunder, dass wir uns verschließen. „Ich hab bei Tinder und Lovoo schon viele alte Bekannte gesehen“, erzählt mir eine Kollegin. „Die sind alle verheiratet und geben sich dort als Singles aus.“ Ist doch klar, dass man vorsichtig wird, wenn man so etwas hört. Je häufiger man verletzt, belogen und enttäuscht wird, desto mehr mauert man. Desto weniger lässt man sich auf etwas ein. Desto weniger ist man fähig, sich Hals über Kopf zu verlieben. Ein Teufelskreis.

Wir reden uns ein, dass diese Freiheit, mit der wir uns durch die Betten tindern, Spaß macht. Und eine Zeit lang stimmt das auch. Wir nennen uns Singles, Mingles, Fuckbuddys. Wir labeln unsere Beziehungen mit neuen Begriffen, um unsere Unsicherheit vor uns selbst zu rechtfertigen. Und ja, es kann Spaß machen. Es ist, als wenn man vor einem Regal voller Marmeladen steht und aus jedem Glas naschen darf. Aber wisst ihr was das Beste ist? Seine Lieblingssorte zu finden. Die vielleicht nicht so fancy ist wie die anderen, die aber jeden Morgen dieses seelige Lächeln aufs Gesicht zaubert.

Oder, um es metaphernfrei auszudrücken: Wer liebt, braucht sich nicht mehr ständig zu optimieren. Wer liebt, nimmt sich nicht mehr so wichtig. Dann betrachten wir vielleicht auch Hamburgs tausend Möglichkeiten etwas entspannter. Die Welt geht nicht unter, wenn wir ab und zu gemütlich einen Film zuhause schauen statt von Event zu Event zu hetzen und uns durch die Massen zu schieben. Wer seine Mauern einreißt, kann nicht nur ganz großes Herzklopfen spüren, sondern auch mit sich selbst glücklicher werden. Und dann könnten wir dieses „Generation Beziehungsunfähig“-Gedöns getrost wieder in die Schwachsinn-Schublade stecken. 

Tinder-Talk

Unsere Autorin Anna Brüning ist natürlich nur zu Recherche-Zwecken auch auf Tinder unterwegs... Falls ihr sie matcht, liebe Männer, schreibt ihr doch einfach eure verrücktesten Tinder-Erlebnisse – oder ladet sie zum Date ein?! Für alle Mädels: Schickt eure crazy Tinder-Storys oder Feedback zum Artikel an unsere Redaktion. 

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