Die Vorstellung, mit prall gefüllten Einkaufstüten nach Hause zu kommen, setzt bei vielen Frauen echte Glücksgefühle frei. Die Hamburgerin Lena Appel (22) war eine dieser Shopping-Queens. „Das war schon sehr exzessiv“, sagt Lena. „Ich bin fast jeden Tag mit neuen Sachen nach Hause gekommen und habe mir darüber kaum Gedanken gemacht.“
Das ist heute anders. Durch ihr Bachelorstudium im Fach Umwelt- und Politikwissenschaften an der Uni Lüneburg ist Lena viel umweltbewusster geworden. „Ich habe schon immer auf eine umweltbewusste Ernährung geachtet und kaufe hauptsächlich regionale Bio-Lebensmittel. Und dann habe ich gemerkt, dass mein Klamottenkonsum gar nicht zu meinen Prinzipien passt und dass ich Geld in Läden ausgebe, die ich nicht für unterstützenswert halte. Die Verschwendung hat mich total genervt!“
Wer mehr kauft als benötigt, verschwendet nicht nur viel Geld, sondern auch viele natürliche Rohstoffe. Doch daran denken die wenigsten, die ihrer Kaufsucht frönen: Fast alle Produkte werden letztendlich aus natürlichen Materialien hergestellt und diese sind in der Natur nicht unbegrenzt vorhanden. Je mehr wir also konsumieren, desto mehr Rohstoffe verbrauchen wir auch. Der ganze Müll, der das Ergebnis dieser Verschwendung ist, wird nun zur Grundlage einer neuen kreativen Idee: Upcycling.
Umweltbewusstes Design
Upcycling setzt auf künstlerische Weise ein Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft. Vermeintlicher Müll wird in neue hippe Gegenstände mit Designfaktor verwandelt. So werden beispielsweise leer getrunkene Tetra-Päckchen zu farbenfrohen Umhängetaschen und alte Holzpaletten zu stylischen Kommoden. Das Beste an dem Ganzen: Es werden keine zusätzlichen neuen Materialien zur Herstellung benötigt und so werden Rohstoffe wie beispielsweise Holz, Baumwolle oder Metalle eingespart. Auch Wasser und Strom werden bei der Herstellung so wenig wie möglich verbraucht, viele Upcycling-Produkte entstehen ganz ohne Maschinen in reiner Handarbeit.
Die ökologischen Vorteile werden mit künstlerischer Raffinesse verbunden. Da nur auf Abfallprodukte zurückgegriffen wird, ist die Kreativität der einzelnen Designer gefragt. „Bei uns funktioniert vieles durch Ausprobieren und Improvisieren“, sagt Carsten Trill, Mitgründer des Upcycling-Ladens Lockengelöt in der Marktstraße 119 im Karoviertel. Seit zehn Jahren stellt er mit seinem Kollegen Dennis Schnelting über zwanzig Serienprodukte in der eigenen Werkstatt her, die sie nebenan in ihrem Laden und international verkaufen. Das Sortiment reicht von Korkenziehern aus Fußball-Kicker-Männchen über Bücher-Garderoben bis hin zu coolen Schallplatten-Lampen. Ihr besonderes Highlight: Couchtische und kleine Schränkchen aus alten Ölfässern.
„Uns war es von Anfang an wichtig, dass wir mit unserer Arbeit etwas Gutes für die Umwelt tun. Gleichzeitig hatten wir aber auch den Anspruch, Designprodukte mit Charme herzustellen“, so Trill. Die Idee funktioniert. Seit zehn Jahren werden die Produkte von Lockengelöt immer gefragter, der Umsatz steigt. „Der Markt wächst und Upcycling ist mittlerweile eine internationale Nische. Aber explodieren wird das Geschäft nicht und das soll es auch gar nicht“, meint Trill. „Es geht uns darum, Unikate herzustellen, die einen besonderen Wert haben. Massenproduktion widerspricht dem und wäre auch wegen der aufwendigen Handarbeit gar nicht möglich.“
Aus alten Sachen neue Dinge herzustellen, ist keine neue Idee. Der Ursprung vom Upcycling hat aber rein gar nichts mit Design zu tun, sondern viel mehr mit einer alltäglichen Notwendigkeit. Besonders in ärmeren Ländern werden Gegenstände umfunktioniert. In Kuba gibt es beispielsweise funktionierende Fotoapparate aus Cola-Dosen, in Asien werden alte LKW Reifen zu Mülleimern gemacht.
Das Ganze nennt sich dann „Repurposing“, also Zweckentfremdung. Ein populäres Beispiel ist die Flaschen-Lampe „A Liter of Light“, die 2002 von dem Brasilianer Alfredo Moser entwickelt wurde. Aus einer einfachen Plastikflasche, die er mit einem Wasser-Bleichmittel-Gemisch auffüllte, erfand der Mechaniker eine funktionierende Lampe, die einer 40-60 Watt Glühbirne gleichkommt und mühelos mehrere Räume im Haus erhellt. Ohne Strom und ohne Kosten. Seit 2011 hat die Hilfsorganisation „My Shelter Foundation“ die Lampen in über zwanzig Ländern verbreitet. Während Repurposing aus einer ökonomischen Notlage heraus entstanden ist, hat das Upcycling bei uns ökologische Beweggründe
Müll muss nicht sein
Upcycling gibt Wegwerfartikeln ein neues Leben und vermeidet so unheimlich viel Müll. Ein anschauliches Beispiel ist die kenianische Firma Ocean Sole, die an den Strand angespülte Flip Flops zu bunten Tierfiguren verarbeitet. Mit ihrem Upcycling-Projekt gibt die Firma nicht nur unzähligen Arbeitslosen aus den kenianischen Slums einen neuen Job, sondern vermeidet auch 400.000 Kilogramm Gummimüll im Jahr und hält so die Weltmeere etwas sauberer. Auch in Hamburg entdecken immer mehr Menschen die Vorteile von Upcycling und werden kreativ.
Viele junge Leute, die keinen eigenen Laden finanzieren können, stellen ihre Ideen ins Netz und gründen Online-Shops oder verkaufen ihre Produkte über die Plattform Dawanda. So gibt es zum Beispiel bei www.soundpauli.de upgecycelte tragbare Musikboxen, die technisch aufgearbeitet und mit einem schicken Design versehen wurden. Individuelle Handtaschen aus riesigen Werbeplakaten gibt es über die Facebook-Seite der Hamburgerin Johanna Pröpstel. Ladengeschäfte, die sich ausschließlich dem Upcycling verschrieben haben, sind bis jetzt noch relativ selten – die wichtigsten haben wir für euch unter „Tipps und Adressen“ zusammengefasst.
Auch das öffentliche Interesse am Upcycling wächst. Seit 2013 gibt es die jährlich stattfindende Messe „Frei-Cycle“ in Freiburg, auf der im ersten Jahr 44, in diesem Jahr schon 70 Aussteller ihre nachhaltigen Designs präsentierten. Eine weitere Messe, die „Fair-Cycle“ in München, hat diesen Mai zum ersten Mal ihre Türen geöffnet. Die Zeichen sind eindeutig: Upcycling ist im Kommen. Aber wie einflussreich ist die Idee?
„Ich denke, dass sich dieser Trend in breiten Teilen der Gesellschaft durchsetzen kann“, sagt Prof. Ulrich Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen Hamburg. „Aber bis jetzt hat nur jeder dritte Deutsche überhaupt etwas vom Upcycling gehört – das muss sich ändern. Damit die Idee sich weiter verbreiten kann, muss sie vor allem besser vermarktet werden.“ Weitere Hürden gibt es nicht, denn Abfall findet sich sowieso überall. Nach Angaben des Bundesamt für Statistik produziert jeder deutsche Bürger eine knappe halbe Tonne Müll pro Jahr – genügend Material, um schicke und praktische Upcycling-Produkte herzustellen.
Der Öko-Boom
Ob Elektroautos, regionale Bio-Lebensmittel oder Upcycling: umweltbewusster Konsum ist total angesagt. Aber kann der Öko-Boom auch langfristig etwas verändern? Janis Brucker, 25-jähriger Musik- und Philosophiestudent an der Uni Hamburg, schätzt die Wirkung von grünen Trends positiv ein. „Ich denke, wenn sich viel im Kleinen verändert, kann daraus etwas Großes werden“, sagt Janis. „Soziale Medien wie Facebook können auch zu einem Umdenken beitragen, indem sie über Dinge wie Massentierhaltung aufklären.“
Für Nachhaltigkeit interessiert sich Janis schon lange. „Ich probiere alle meine kaputten Sachen erstmal zu reparieren, das spart Geld und ist weniger verschwenderisch“, sagt Janis. Wenn er dann doch etwas kaufen muss, guckt er zuerst in Second Hand- oder Upcycling-Läden und auf dem Flohmarkt. Sein neuester Fund: Ein Handmixer aus DDR-Zeiten. „Ich hab' mal bei meinen Eltern versucht, eine Sachertorte zu backen und da ist ihr Bosch-Rührgerät kaputtgegangen. Ich wusste aber, dass die DDR-Mixer einfach ewig halten und bin total froh, dass ich einen gefunden habe“, sagt Janis. Auch in anderen Bereichen versucht der Musikstudent nachhaltig zu leben. Im Gemeinschaftsgarten seiner WG baut er eigenen Salat an, mit ausschaltbaren Steckdosen spart er Strom, und Mülltrennung ist für ihn sowieso eine Selbstverständlichkeit.
Wer auch gerne wie Janis seine alten Sachen reparieren möchte, aber ein bisschen Hilfe braucht, kann sich an sogenannte Repair Cafés wenden. Das sind nachbarschaftliche Treffen, bei denen kaputte Dinge mitgebracht und mit der Hilfe von ehrenamtlichen Handwerkern repariert werden. „Der Sinn der Sache ist, dass die Verbraucher nicht alles wegwerfen und neu kaufen, sondern eine Möglichkeit haben, ihre alten Schätzchen zu erhalten“, sagt Jens Michaelsen, „Werkzeugdoktor“ und Organisator des Repair Cafés im Harders Kamp 1 in Bergedorf. Die Repair Cafés wurden vor fünf Jahren als Stiftung in Holland gegründet. In Deutschland gibt es bereits mehr als hundert von ihnen, davon sechs in Hamburg.
Auch Umweltexperten schätzen die grüne Welle als folgenreichen Bewusstseinswandel ein und sind optimistisch. „In den Köpfen der Menschen tut sich etwas“, sagt Jürgen Forkel-Schubert, Verantwortlicher der Intiative „Hamburg lernt Nachhaltigkeit“ (HLN). „Das sieht man zum einen an der jungen Generation, die aktiv wird und Projekte wie Gemeinschaftsgärten oder Repair Cafés startet. Das sind bislang nur Einzelaktionen, die aber zeigen, in welche Richtung es mal gehen kann.“
Die Initiative wird von der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt betreut und ist Teil der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. In Form von Vorträgen und interaktiven Projekten klärt die HLN-Initiative an Schulen und Kitas über umweltbewusstes Verhalten auf. „Auch in vielen Firmen gibt es mittlerweile eine „Corporate-Social-Responsibility“-Abteilung, die die Erfüllung von ökologischen Kriterien überprüft. Und zuletzt sind da noch die Unis, die sich für Nachhaltigkeit einsetzen. An der Uni Hamburg gibt es seit 2010 einen jährlichen Nachhaltigkeitsbericht und die TU in Harburg hat einen Nachhaltigkeitsrat“, so Forkel-Schubert.
Geht Konsum auch anders?
Repair Cafés und auch Upcycling Läden zeigen uns Möglichkeiten, Müll zu verhindern. Aber die Trends wollen uns auch einen Denkanstoß geben. Es geht darum, das eigene Konsumverhalten zu überprüfen und sich selbst Fragen zu stellen wie „Brauche ich dieses T-Shirt wirklich oder reichen nicht die 20-30, die ich schon habe? Muss ich meine kaputten Sachen wegschmeißen oder lässt sich da noch etwas reparieren?“. Das Ziel ist ein verantwortungsvoller Konsum, bei dem nur Sachen gekauft werden, die man auch braucht. Gleichzeitig geht es auch darum, Altes wieder schätzen zu lernen und nicht immer nur dem neuen Paar Schuhe und dem neuesten Handy nachzujagen.
„Wir von Originol setzen uns mit alten Sachen lieber auseinander, als sie einfach aufzugeben“, sagt Julie Dieckmann (29), die im Sommer ihr Upcycling-Atelier Originol in der Friedensallee 128 in Ottensen aufgemacht hat. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Pascal Snoeck (41) verpasst die gelernte Interior-Designerin alten Stühlen, Tischen und Kommoden einen neuen Anstrich. „Wenn alte Möbel sprechen könnten, würden sie uns tolle Geschichten erzählen“, meint die Hamburgerin. „Deswegen bewahren wir lieber diesen emotionalen Wert und geben ihnen ein neues modernes Aussehen.“
Wenn alle wie Julie denken würden, wäre die Wegwerfgesellschaft wahrscheinlich schon Geschichte. Doch das ist sie nicht. Viele Menschen leben noch sehr verschwenderisch, nach dem Motto „wegwerfen, neu kaufen“. „Ich finde nach so einer richtigen Einkaufstour fühlt man sich vielleicht kurz glücklich, aber das hält ja nicht an“, sagt Umweltstudentin und ehemalige Shopping-Queen Lena. „Dann fällt einem auf, dass man zu viel Geld für Sachen ausgegeben hat, die man nicht braucht.“
Ihre Zeit nutzt die Studentin heute besser. „Ich habe gar nicht mehr das Bedürfnis, einkaufen zu gehen. Dieses Jahr habe ich mir tatsächlich nur einen upgecycelten Stoffrucksack und einen Hut gekauft“, sagt Lena. Ihre frühere Kaufsucht kann sie nicht mehr verstehen. „Für mich ist Shopping ‚leer‘ geworden. Es ist doch viel bereichernder, mit interessanten Menschen ins Gespräch zu kommen und Sachen zu erleben.“ Vielleicht ist die Zeit also reif für ein Umdenken. Und wer wäre besser dazu geeignet, diese Bewegung nach vorne zu treiben als wir jungen, hochmotivierten Studenten?
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