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„Streiten statt Canceln“ – ein Plädoyer für die wahre Freundschaft

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Konflikte aushalten war gestern: Heutzutage „canceln“ wir Freundschaften oft wegen eines unbedeutenden Streits. Wie im Social Web entfolgen wir, swipen weg, scrollen weiter und löschen Unpassendes aus unserem Feed. Unsere Autorin Natalia Sadovnik schlägt einen radikalen Ausweg vor.

Kürzlich wurde ich Zeugin eines Streits von zwei langjährigen Freundinnen. Eigentlich ging es um nichts Wesentliches: Eine hatte patzig geantwortet, die andere ärgerte sich über den Ton, drei WhatsApp-Nachrichten später war das Ganze völlig ausgeartet. Nicht gerade unüblich und nicht weiter bemerkenswert, hätte eine von ihnen nicht geschrieben: „Vielleicht sollten wir die ganze Freundschaft überdenken.“ Einen handfesten Grund – Neid, Betrug, Verrat oder auch nur eine richtige Beleidigung – gab es nicht. Inzwischen ist der Streit zum Glück beigelegt und die Freundschaft gerettet. Aber auch eine andere Freundin von mir – nennen wir sie X – überlegt gerade, ob sie mit ihrer früheren Mitbewohnerin „Schluss machen“ sollte. Seitdem diese einen neuen Job samt neuem Freundeskreis gefunden hat, hat sie zwar immer noch regelmäßig, aber nicht mehr so oft Zeit für X wie für ihre Kolleginnen. Wenn sie sich treffen, fühlt sich X vernachlässigt und enttäuscht. „Warum soll ich mir das jedes Mal antun?“, fragt sie.

  • Angst vor unangenehmen Gefühlen

„Generation Beziehungsunfähig“, nur mit Freundschaften, könnte man sagen. Womöglich haben wir unsere hohen Ansprüche an Partner einfach auf Freunde übertragen – wenn es nicht perfekt läuft, kann der gesamte Mensch weg. Wie so oft hat dieser bedenkliche Trend bereits einen Namen in den USA: Erheißt „canceln“. Bereits seit ein paar Jahren gehört es zum allgemeinen Hobby im angelsächsischen Internet, einer Person einfach zu „kündigen“. „Fast jedem, den es sich zu kennen lohnt, wurde schon gekündigt“, schrieb die „New York Times“ im letzten Jahr. Taylor Swift, Bill Gates, Kanye West und jedem Star oder Sternchen, die sich irgendwie inakzeptabel verhalten haben. Shitstorms sind von gestern. Statt sich über eine ungeschickte oder dumme Aussage aufzuregen, wird die betreffende Person nun mit großer Ankündigung aus dem Leben – und Feed – entfernt. Wie ein Netflix-Abo. Und genau das beobachte ich immer öfter bei Freundschaften. Dieser Drang, ohne einen gewichtigen Grund gesamte Freundschaften zu hinterfragen, scheint mir symptomatisch für eine Zeit, in der wir vor nichts so viel Angst haben wie vor unangenehmen Gefühlen. Und in der nichts leichter ist, als Inhalte und Menschen aus unserem Leben zu streichen.

Und wer ist schuld? Klar. Das Internet. Facebook. Twitter. Tinder. Und auch Netflix, das uns betäubende Geschichten liefert, die nur aus Plot Twists, Höhepunkten und Cliffhangern bestehen, sodass wir uns keine Sekunde langweilen müssen. Und noch mehr Instagram, das uns täglich mit einer Dosis arrangierter Perfektionen versorgt, die wir bei kleinster Unstimmigkeit sofort wegscrollen können. Wir können blitzschnell vorspulen, wegklicken, folgen und entfolgen – und tun das jeden Tag. Kann es sein, dass wir bei all dem Überangebot an Schönheit und Spannung, Bequemlichkeit und Personalisierung vergessen haben, dass die Welt nicht unbedingt allein für unser Wohlbefinden existiert? Wir haben uns bestimmt alle mal gewünscht, Menschen einfach vorspulen oder wegklicken zu können.

  • Kein Platz für Fehler

Seit wir das täglich bei Netflix und Instagram tun, wünschen wir uns diese Funktion wohl auch bei Freunden. Um lediglich die schönen Momente zu behalten. Es hilft nicht gerade, dass wir täglich mit Artikeln bombardiert werden, in denen steht, wir sollten uns von allem und jedem befreien. Socken, die uns nicht in Glück versetzen (danke, Marie Kondo!), unproduktive Zeitfresser und allen voran– toxische Freundschaften. Klar sollten wir Beziehungen überdenken, in denen man uns wirklich dauerhaft nicht guttut, uns herabwürdigt, manipuliert, belügt oder hinter unserem Rücken schlecht über uns redet. Doch ich erlebe immer wieder, dass Freundschaften zerbrechen, nur weil eine Person mal die andere enttäuscht hat. Weniger Zeit für sie hat. Eine andere Meinung kundtut. Oder mal ausfallend wird. Es gibt keinen Raum mehr dafür, dass Freunde Fehler machen, sich gegenseitig verletzen oder verärgern – oder einmal ihren Emotionen freien Lauf lassen. Ein, zwei Konflikte, und schon zweifeln die Menschen reflexartig die gesamte Freundschaft an und fragen sich, ob sie ihnen noch „gut tut“. Ohne dass jemand wirklich etwas Schlimmes gemacht hätte. Dabei haben Konflikte doch ihren Sinn und Zweck, das sagen selbst die Psychologen. Und sei es, um uns gegen wesentlich schlimmere Auseinandersetzungen zu wappnen, beispielsweise mit einem gemeinen Chef. Doch nun kündigen und beenden wir gesamte Freundschaften, nur weil unsere Gefühle mal verletzt wurden. Wann sind wir solche Pussies geworden?

Ich frage mich, ob wir nicht kollektiv die Sozialen Medien canceln sollten. Nachdem wir unseren Kopf durchgelüftet haben, sollten wir die frei gewordene Zeit mit unseren Freunden verbringen. Wenn es sein muss, uns mächtig an die Gurgel gehen. Und danach ein Bier zusammen trinken. Wie echte Freunde es eben tun.

Text: Natalia Sadovnik
Foto: Unsplash

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