Beinahe jede Minute unseres Lebens sind wir gezwungen uns zu entscheiden. Rund 22.000 Entscheidungen sind das im Durchschnitt pro Tag, die bewusst oder unterbewusst getroffen werden müssen. Das beginnt bereits morgens beim Bäcker mit der Entscheidung für oder gegen das vermeintlich ungesunde Franzbrötchen, geht mit der Wahl des Transportmittels zur Uni weiter und gipfelt in wichtigen Lebensentscheidungen wie „Breche ich mein verhasstes Studium ab oder ziehe ich das letzte Jahr aus Vernunftsgründen noch durch?“.
Während viele Experten, Politiker und Buchautoren dabei von einem Problem unserer „Maybe-Generation“ sprechen, ist die Angst vor einer falschen Entscheidung vermutlich schon so alt wie die Entscheidung selbst. Jedoch haben sich die Umstände in den letzten Jahren grundlegend geändert. Während man früher zwischen fünf Käsesorten wählen musste, sind es heute gefühlt 500. Und wenn wir heute studieren, liegt bereits die Entscheidung gegen 16.633 andere Studiengänge hinter uns – die Möglichkeit im Ausland zu studieren mal außen vor gelassen. Die Auswahl an Möglichkeiten ist in den letzten Jahren in allen Bereichen unseres Lebens enorm gestiegen und wir haben verlernt, wie man eigentlich gute Entscheidungen trifft und es uns in unserer Unentschlossenheit bequem gemacht.
„ENTSCHEIDEN IST WIE FAHRRADFAHREN: UMSO MEHR WIR ES ÜBEN, DESTO BESSER WERDEN WIR DARIN." Christopher Kobale, Entscheidungscoach
Gefangen im Individualitätszwang ist uns der Mut zum Individualismus verloren gegangen. Wenn die besten Freunde nach dem Abitur ein Studium beginnen, sollten wir das vermutlich auch tun, richtig? Und wenn die Eltern uns vom Kunststudium ab- und zum BWL-Studium zuraten, dann ist das vermutlich die richtige Entscheidung oder? Schließlich haben die ja schon mehr Lebenserfahrung. Wir sind unsicher, schauen lieber auf andere, als dass wir uns auf uns selbst verlassen und lassen uns die Entscheidung so oft es geht liebend gerne abnehmen. In unserer vernetzten Welt voller Möglichkeiten nimmt uns gerade die Fülle an Optionen häufig
REFLEKTION UND BAUCHGEFÜHL
Dass uns das tatsächlich schwerer fällt als nochunseren Eltern und Großeltern, kann Christopher Kobale bestätigen. Seine Berufung zum Entscheidungscoach entdeckte der Hamburger nach verschiedenen Studiengängen. „Unsere Generation erlebt als erste den Überfluss des Informationszeitalters. Wir haben heute eine Million Mal mehr Handlungsoptionen, als unsere Großeltern hatten und wir arbeiten gerade daran diese Informationsflut zu verarbeiten. Deshalb sind Ziele und Prinzipien so wichtig. Sie sind wie ein treuer Ratgeber." Und wie schaffen wir es nun konkret dem Entscheidungs-Struggle zu entfliehen? Was können wir ändern?
„Entscheiden ist wie Fahrradfahren. Es gilt also, wie in vielen anderen Lebensbereichen auch: Umso mehr wir es üben, desto besser werden wir darin", so Christopher Kobale. „Auch hinterher zu reflektieren, ob meine Wahl das gewünschte Ergebnis gebracht hat, ist ein wichtiger Teil des Lernprozesses.“ Fest steht also, je häufiger wir uns entscheiden, desto sicherer werden wir. Entscheidung macht den Meister sozusagen. Wir müssen das Entscheiden üben, bewusst, jeden Tag. Um uns selbst die Angst davor zu nehmen und zu merken, wann wir gut entscheiden und wann nicht.
REALISTISCHE ZIELE UND ZEIT
Auch Christina Richter, psychologische Beraterin aus Sasel, merkt, dass der Druck im Alltag oder Job für uns immer größer wird. So kommen viele Patienten bereits mit Anfang 20 zu ihr und fühlen sich total ausgebrannt. Das Grundproblem liegt dabei ihrer Ansicht nach in dem „Ichmuss- Gefühl“. „Viele achten vor allem bei der Berufs- oder Studiumswahl viel zu wenig auf ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche, sondern orientieren sich an den anerkannten Gesellschaftsvorgaben oder dem Wunsch der Familie“, sagt die Expertin. „So werden wir handlungsunsicher und stecken in einer Art Ohnmachtsmoment fest, in dem wir uns natürlich überhaupt nicht mehr entscheiden können.
„WIR MÜSSEN UNS ABTRAINIEREN, IRGENDEINEM IDEAL ENTSPRECHEN ZU WOLLEN." Christina Richter, psychologische Beraterin aus Sasel
Der Schlüssel liegt dabei in der Erkenntnis, sich nicht verbiegen zu müssen, sondern auf die eigene innere Stimme, also das Bauchgefühl, zu hören und sich nicht von anderen Menschen irritieren zu lassen.“ Neben dem Bauchgefühl spielen auch persönliche Lebensziele eine wichtige Rolle. „Wir müssen uns abtrainieren, irgendeinem Ideal entsprechen zu wollen“, sagt die psychologische Beraterin Christina Richter. „Nur weil alle aus unserer Familie zum Beispiel Medizin studiert haben, muss das nicht unbedingt der richtige Weg für uns selbst sein.“
Vor lauter Leistungsdruck wird kaum noch gesehen, was man als individuelle Persönlichkeit überhaupt leisten kann – und will. Während der Hauptschulabschluss beispielsweise vor einiger Zeit noch ein anerkannter Abschluss war, muss man heute ohne Abitur und Studium gefühlt überhaupt nicht mehr weitermachen. Die Ziele werden immer höhergesteckt – aber unser inneres Wachstum kommt kaum hinterher. Ein weiterer Tipp von Christina Richter, der auf den ersten Blick trivial klingen mag, aber im hektischen Alltag immer wieder vergessen wird, ist Zeit. Zeit und Ruhe in sich zu gehen und sich zu überlegen, wo man gerade steht und wo man hinwill. Während wir nämlich neben unserem Vollzeitstudium drei Nebenjobs haben, unseren fünf Hobbys nachgehen und trotzdem die Freunde nicht vernachlässigen wollen, nehmen wir uns viel zu wenige Momente für uns selbst – und unsere Entscheidungen. „Je mehr wir jedoch über uns selbst wissen, unsere Bedürfnisse kennen, desto klarer können wir entscheiden, was wir wirklich wollen", so die Expertin.
FÄHIGKEITEN UND MUT
Aber nicht nur bei wichtigen Lebensentscheidungen, sondern auch bei vermeintlich kleinen Entscheidungen tun wir uns teilweise schwer: Wenn wir zum Beispiel an einem Samstag vor der Wahl zwischen einem Spieleabend mit Freunden oder der wilden Feierei stehen, verfallen wir häufig in eine Entscheidungsstarre und bleiben einfach zu Hause. Ganz nach dem Motto: Besser gar nicht entscheiden, als falsch entscheiden. Wir haben Angst vor unserer eigenen Luxusauswahl. Denn wenn wir mal ehrlich sind, handelt es sich hierbei nicht um existenzielle Probleme. Dennoch: Die Kernfrage, die wir uns bei jeder Wahl stellen sollten, lautet: Was ist mir wichtig, was würde ich bereuen?
„UND DIESER GLAUBE AN SICH SELBST SOLLTE SICH WIE EIN ROTER FADEN DURCHS LEBEN ZIEHEN." Bettina Meyer, Lifecoach aus Blankenese
„Der Glaube an sich selbst und die eigenen Stärken sowie Fähigkeiten sind in diesem Rahmen wichtige Faktoren", so Bettina Meyer, Lifecoach aus Blankenese. „Und dieser Glaube an sich selbst sollte sich wie ein roter Faden durchs Leben ziehen. Er hilft auch bei kleinen Entscheidungsproblemen.“ Rund 99 Prozent der Menschen verweisen bei der Frage nach dem wichtigsten Menschen in ihrem Leben auf einen anderen. „Das ist bezeichnend für ein Grundproblem bei der Entscheidungsfindung, da der Fokus dann zu sehr im Außen und zu wenig auf den eigenen Bedürfnissen, Werten und Motiven liegt“, meint die Expertin. Erst wenn wir uns selbst die Hauptrolle in unserem Leben zugestehen, können wir auch Entscheidungen fällen, die uns langfristig glücklich machen.
Was aus allen Expertenstimmen auch resultiert: Eine gute oder schlechte Entscheidung gibt es eigentlich nicht. Wir müssen für uns selbst entscheiden, ganz subjektiv, ganz individuell. Und dabei müssen wir wieder mehr Mut haben, uns trauen, uns auf unseren Instinkt verlassen. Dabei sollten wir bei den großen Karriereentscheidungen nicht immer nur auf einen vermeintlich perfekten Lebenslauf setzen. Denn gerade mutige Ecken und Kanten sind heutzutage bei vielen Arbeitgebern gern gesehen. Und wenn ihr Bock auf Feiern habt? Geht feiern! Lasst uns wieder mehr auf das Un-Perfekte setzen, auf das eigene Naturell und den Mut zu eigenen Entscheidungen!
Text: Laura Bähr | Fotos: Barnimages/Drits, Kobale, Hansen, Meyer
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