Zwei Matratzen auf dem Boden, ein Sofa in der Ecke: So sieht das Arbeitszimmer von Thorge Detlevsen (28) fast jedes Wochenende aus. Dann übernachten dort Adam aus England oder Galatée aus Frankreich oder Fen aus Vietnam. An die 250 Gäste haben Thorge und sein Mitbewohner in den vergangenen fünf Jahren in ihrer 42 Quadratmeter großen Wohnung am Berliner Tor beherbergt. „Ich finde das echt entspannt, Leute bei mir aufzunehmen“, sagt Thorge. „Fast alle sind offen, interessiert und frei von Vorurteilen. Viele sind schon weit herumgekommen und somit großartige Gesprächspartner. Die Leute bringen ein Gefühl von Urlaub in meinen Alltag.“
Thorge sieht seine Besucher als zusätzliche Mitbewohner an – oftmals sind das Studis, die einen Städtetrip machen und froh sind, einen kostenlosen Platz zum Schlafen gefunden zu haben. Social Travelling heißt dieser Trend, bei dem immer mehr Studenten mitmachen und Reisenden eine Couch zur Verfügung stellen oder selbst auf Reisen das WG-Sofa anstelle des Hotels wählen. Doch den meisten geht es nicht nur darum, für lau zu wohnen: „Neue Leute kennenlernen, sich international vernetzen – das macht Social Travelling interessant“, sagt Thorge. Zwischen seinem Berufsschullehramt-Studium und seiner Arbeit als Software-Entwickler nimmt er sich meist viel Zeit, um mit seinen „temporären Mitbewohnern“ zu kochen, ein Bierchen zu trinken, feiern zu gehen oder sich Hamburg anzuschauen. „Dadurch, dass ich Besuch bekomme, informiere ich mich viel mehr darüber, was so in meiner eigenen Stadt abgeht. Dabei entdecke ich auch viele neue Sachen. Allerdings wiederholt sich auch manches: Keine Ahnung, wie oft ich wohl schon mit Besuchern durch den Alten Elbtunnel gelaufen bin!“
Thorges „Couchis“, wie er seine Besucher nennt, kontaktieren ihn über Social Travelling-Portale, wie „Couchsurfing“, „BeWelcome“ oder „TrustRoots“. „Wir schreiben dann ein bisschen hin und her, erzählen was über uns und wie wir uns den Besuch vorstellen, und wenn die Leute dann vor meiner Tür stehen, habe ich das Gefühl, sie schon ein bisschen zu kennen“, so Thorge. Negative Erfahrungen hat er bisher noch nicht gemacht, auch wenn er von anderen weiß, dass das nicht auszuschließen ist. „Wenn man klar kommunizieren und Grenzen aufzeigen kann, kann allerdings nicht allzu viel Schlimmes passieren“, findet er und bringt seinen Besuchern viel Vertrauen entgegen. „Sonst würde es ja auch gar nicht funktionieren!“
Sofa statt Hotelbett!
Social Travelling ist eine Bewegung junger Leute, die spontan, abenteuerlustig und kontaktfreudig auf Reisen gehen wollen – und die das allein deshalb können, weil sie in Hamburg, Berlin oder München, Singapur, Hawaii oder Kapstadt jemanden finden, der sie – einfach so – bei sich aufnimmt. Für Studis ist Social Travelling also die perfekte Art zu reisen. Und deshalb packen auch immer mehr Studenten in den Semesterferien ihren Rucksack und besuchen nicht nur ihre alten Freunde in der Heimatstadt, sondern knüpfen in den Städten und Dörfern der Welt neue Freundschaften.
Das Internet macht’s möglich. Entgegen der Erwartung, dass junge Menschen in der Welt ihrer virtuellen sozialen Netzwerke vereinsamen, haben seit Beginn der 2000er über 10 Millionen Menschen weltweit ein Profil in einem Social-Travelling-Portal erstellt. Umfragen zufolge sieht sich ein Großteil der registrierten Nutzer nicht primär als Angehöriger seiner Nationalität, sondern als Weltbürger – ein positiver Nebeneffekt der Globalisierung – und somit steigt das Interesse, andere Kulturen kennenzulernen.
Doch Social Travelling geht über die bloße Gastfreundschaft, jemanden auf seiner Couch schlafen zu lassen, hinaus. Längst haben sich auch Portale wie „Airbnb“, „9flats“ oder „Wimdu“ etabliert, über die Menschen ihre Wohnungen oder Zimmer vermieten. Praktisch für alle, die reisen und ihre Wohnung nicht leer stehen lassen wollen oder ohnehin lieber in Wohnungen als in Hotels schlafen. „Dreißig Prozent der Reisenden, die Privatübernachtungen nutzen, wären sonst gar nicht verreist“, sagt Roman Bach, Geschäftsführer von „9flats“, das sowohl von Studenten und jungen Familien als auch von Geschäftsleuten genutzt wird. Privatübernachtungen hätten sich als festes Segment auf dem Reisemarkt etabliert, so Bach: „Laut ‚Spiegel‘ wird sich jeder zweite Deutsche in diesem Jahr eines der Portale während seiner Reiseplanungen ansehen.“
Studis wissen, wie man sich diese Möglichkeit zunutze macht: Manch einer vermietet seine Wohnung auf St. Pauli regelmäßig an Touristen und wohnt dann kurzerhand bei seiner Freundin. Das Geld für die Miete kriegt er auf diese Weise ganz easy wieder rein. In Deutschland liegt ein solches Verhalten allerdings in einer Grauzone. Stichwort: Wohnraumverknappung. Es besteht nämlich die Gefahr, die Wohnungsnot zu vergrößern, indem in beliebten Vierteln die meisten Wohnungen nur noch an Touristen vermietet werden. Um die genauen rechtlichen Vorschriften, abhängig von Wohnort und Wohnungstyp, zu erfragen, sollte man besser mit dem Vermieter klären, in welchem Maße eine Untervermietung gestattet ist.
Hamburg ist eine Trendcity
Egal ob vermietet oder umsonst, die Nachfrage nach Privatunterkünften steigt besonders in Trendcitys wie Hamburg. Günstige Übernachtungsmöglichkeiten locken mehr Studenten in die Stadt. Je mehr internationale Studenten sich in der Stadt tummeln, desto mehr haben auch Lust, an den Szene-Hotspots der Hansestadt so richtig abzufeiern. Einer, der sich diese Feierlaune zum Job gemacht hat, ist Juan Sedat. Wöchentlich führt er eine Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Leuten über den Kiez. „Volle Hütte“ heißt diese Tour, denn wenn Juan mit dem Trupp eine Location betritt, ist die Hütte voll und die Tanzfläche am Beben. „Dabei entsteht eine richtige Community“, schwärmt er. „Die Energie der Gruppe reißt alle mit!“ Los geht’s meistens in einer Bar, dort wird gekickert, und alle lernen sich erst einmal kennen. Danach zieht der Trupp für je eine Stunde durch vier Clubs. Offiziell ist die Tour danach beendet, aber inoffiziell wird weiter gefeiert. „Hamburg hat mega viel zu bieten: den Hafen oder seine Multikulti-Gesellschaft zum Beispiel“, sagt der gebürtige Halbspanier, der sich mit seinen Partytouren auch selbst verwirklicht. „Mit Mut und coolen Ideen geht immer irgendwas!“ Er findet es super, dass Studis über Social Travelling ihren Horizont erweitern. „Erfahrungen sammeln kann man nur, wenn man seine Komfortzone verlässt. Dann bleibt man open-minded. Social Travelling ist perfekt dafür – und Party machen gehört eben einfach dazu!“
Insidertipps per Audioguide
Wer so etwas Cooles in Hamburg erlebt, möchte seine Erfahrungen natürlich mit anderen teilen. Über Facebook bekommen es nur die Freunde mit – mit der App „AudioguideMe Stories“, einer akustischen Weltkarte, ist es möglich, der ganzen Welt von den eigenen Erlebnissen zu berichten. „Demokratisierung von Deutungshoheit“, nennt Paul Bekedorf (31) das Konzept des Hamburger Start-Ups, das seit August 2014 dem Social-Travelling-Trend eine besondere Note verleiht. Die Jungunternehmer Paul Bekedorf, Hannes Wirtz und Christoph Tank hatten keinen Bock mehr auf standardisierte Reiseführer. Stattdessen wollten sie Bewohner und Touristen selbst zu Wort kommen lassen. „Ob als akustisches Reisetagebuch oder als lokaler Expertentipp – jeder kann sich kreativ austoben“, so Christoph Tank (32).
Wie funktioniert’s? Die kostenlose App besteht im Wesentlichen aus einer Weltkarte mit vielen Pin-Nadeln – theoretisch an jedem Ort der Welt. Hinter diesen Pin-Nadeln verstecken sich Sprachaufnahmen von Privatpersonen, Podcasts von Bloggern oder Hörbuchausschnitte. Thematisch sind keine Grenzen gesetzt: Kleine Inseln, Kunstautomaten, Schleichwege, Kieze – jede Ecke, die Leute in ihrer Stadt interessant finden, ist einen Beitrag wert! Das Coole daran: Wer loszieht nach Hamburg, weiß nun genau, wo die nettesten Cafés sind und wie der Alltag in der Schanze aussieht. Wer sich nur für ein bestimmtes Thema interessiert, schafft sich via Hashtag seine eigene Weltkarte. Um die Authentizität des Ortes zu wahren, kann man eigene Beiträge nur an Ort und Stelle aufnehmen. Anhören kann man sich diese jedoch überall auf der Welt. Wenn also ein Hamburger Studi ein Auslandssemester in Jakarta einlegt und die Atmosphäre eines Straßenfestes einfängt, kann jeder User daran teilhaben. Paul sagt: „Die Beiträge können gern skurril, originell und verrückt sein – Hauptsache authentisch!“
Auf in die weite Welt!
Hamburger Studis lieben es jedoch nicht nur, ihre eigene Stadt zu präsentieren, sondern reisen auch selbst gerne. Der Social-Travelling-Trend ist dabei genau das Richtige. Vor allem in den kommenden Semesterferien werden wieder viele Studierende in aller Welt bei Einheimischen zu Gast sein. Politikstudentin Anna Spiegelberg (20) ist bereits im Februar nach Brasilien geflogen. Gemeinsam mit einer Freundin wollte sie das Land erkunden – und wo geht das besser als direkt bei Locals? Ihr erster Anlaufpunkt in Rio waren Austausch-Studierende, die sie durch ihr eigenes Studium kennengelernt hatten. Doch dann ging es weiter. Über die Couchsurfing-App konnten sie ihre nächsten Unterkünfte spontan planen. In Porto Seguro trafen sie sich am Tag der Ankunft mit ihrer künftigen Gastgeberin, einer Englischlehrerin, die ihnen sympathisch erschien. „Wenn man sich vorher mit den Leuten trifft, kann man sie kennenlernen und gegenseitig überlegen, ob es passt“, sagt Anna. Die Tage bei der Familie der Lehrerin waren für die zwei Mädels eine schöne Erfahrung. „Wir haben oft zusammen gekocht und uns viel über unsere Kulturen ausgetauscht. Außerdem hat uns die Familie viele schöne Strände der Umgebung gezeigt. Das war cool, denn wir wären sonst niemals darauf gekommen, dort lang zu gehen.“
Während Anna primär mit „Couchsurfing“ reist, nutzt Manon Schröder (23) den Social-Travelling-Trend in allen Varianten: Während der Semesterferien vermietet die Lehramtsstudentin ihre Ein-Zimmer-Wohnung in Eimsbüttel über die Seite wg-gesucht.de an Erasmus-Studierende und Praktikanten. Von dem eingenommenen Geld reist sie selber um die Welt und war schon in den USA, Kanada, Australien, Singapur, Thailand, China, Tunesien, Russland und vielen europäischen Ländern. Unterwegs hat sie sowohl bei Privatpersonen über „Couchsurfing“ oder „Airbnb“ als auch in Hostels gewohnt. Wer mit Manon spricht, kommt aus dem Staunen über ihre vielen Erlebnisse nicht he-raus. Alles easy going? „Ja“, sagt Manon, denn sie hat auf ihren Reisen schon viele hilfsbereite Menschen getroffen. In Hamburg führt sie im Rahmen der „Free City Walking Tours“ selbst Touristen durch die Stadt. Das Prinzip dieser Stadtführungen ist es, dass jeder dem Guide anschließend so viel zahlt, wie ihm die Führung wert war. In Hamburg ist dieses Prinzip noch recht neu, in anderen europäischen Städten jedoch längst üblich. Manon liebt die Internationalität dieser Touren. „Man trifft auf eine bunte Mischung aus typischen Travellern, Rucksacktouristen, Familien, Kreuzfahrtgästen und auch echten Hamburgern, die die Tour einfach mal mitmachen. Einige Leute, die zu unseren Touren kommen, sind schon weit gereist und, so ist es immer sehr interessant, sich auf dem Weg von Stop zu Stop über Erfahrungen auszutauschen.“
Tolle Menschen zu treffen – ob beim Reisen oder zu Hause – wer möchte das nicht? Couchsurfer-Host Thorge hat sich inzwischen ein Gästebuch angelegt: Party-Anekdoten und eingeklebte Eintrittskarten, Fotos und Münzen dokumentieren die tollen Erlebnisse mit seinen Couchis. „Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich auch selber mehr reisen.“ Auf seiner nächsten Reise möchte er mit Mascha, die schon einmal bei ihm auf der Couch geschlafen hat, mit der transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok fahren. Eine Einladung von Adam, ihn in Nottingham zu besuchen, wartet auch noch auf ihn.
Tipps und Adressen: So wird das Reisen zum Erfolg und Eure Gäste fühlen sich wohl
I. Zu Hause
Kein Kauderwelsch mehr! Wanna train your language skills? Dann ab ins Internatio-nal Language Café! Immer sonntags treffen sich Couchsurfer, Austauschstudierende und interessierte Hamburger im Kaféka, um beim Plaudern und Schnacken ganz nebenbei ihre Sprachkenntnisse zu verbessern! International Language Café, Winterhuder Weg 114, sonntags ab 16 Uhr
Buchtipp Die passende Lektüre für den Flieger zur Einstimmung auf Euer Reiseabenteuer bietet das Buch „Couchsurfing im Iran. Meine Reise hinter verschlossene Türen“ von „Spiegel Online“-Reiseredakteur Stephan Orth. Eine Bikiniparty in der Pilgerstadt Mashhad oder eine Übernachtung neben dem Atomkraftwerk Bushehr – solche Geschichten findet Ihr garantiert nicht im Reiseführer! Orths Buch widerlegt Iran-Klischees und macht stattdessen Lust auf eine Reise dorthin. Piper Verlag, 14,99 Euro
Ooohh… sorry! Andere Länder, andere Sitten! Jedes Land hat seine kulturellen Eigenheiten. Um nicht unhöflich zu erscheinen, ist es ratsam, sich vorher über die landesüblichen Gepflogenheiten zu informieren. Sonst tretet Ihr wohlmöglich schnell in ein Fettnäpfchen. Eine Starthilfe gibt es unter W: reiseknigge.eu. Dieser Knigge hilft natürlich auch, wenn Ihr selber Gäste empfangt.
II. Auf Reisen
Bus, Zug, Flieger, Trampen? Ihr habt viele Möglichkeiten, Euch fortzubewegen! Seit Januar 2013 sind in Deutschland viele Fernbusse unterwegs, aber auch das Interrail-Ticket der Deutschen Bahn, mit dem Ihr entweder Europa durchqueren oder in einem Land herumreisen könnt, ist bei Studis nach wie vor beliebt. Sogar Schifftransfers sind vergünstigt möglich. Worauf wartet Ihr noch? W: bahn.de/interrail, W: mitfahrgelegenheit.de
Das schönste Sofa Ihr wollt eine schöne Wohnung mitten im Zentrum von Madrid oder eine Couch in Lima? Könnt Ihr haben. Ihr habt eine schöne Wohnung im Zentrum von Hamburg und Eure Gästematratze wurde noch nie benutzt? Egal, was auf Euch zutrifft, meldet Euch schnell auf einer der folgenden Seiten an. Gastfreundschaftsaustausch: W: couchsurfing.com, W: trustroots.org, W: bewelcome.org, W: hospitalityclub.org, W: warmshowers.org. Vermietung von Privatunterkünften: W: airbnb.de, W: 9flats.de, W: wimbu.de
Grüße aus Hamburg Gastgeschenke sollten auf jeden Fall in Euer Gepäck gehören! Eure Gastgeber werden sich freuen, wenn Ihr ihnen ein kleines Souvenir aus Eurer Heimatstadt mitbringt. Besonders originell sind da natürlich Mitbringsel von Hamburger Labels, wie zum Beispiel „Hamburg Digga“, einer Mode-Kollektion für stolze Hamburger, die sich durch Crowdfunding finanziert. W: hamburgdigga.de
III. Am Ziel...
Sightseeing-Tour Lasst Euch von Locals die Stadt zeigen! Entweder ihr nehmt an einer „Free City Walking Tour“ teil oder ihr sucht Euch mithilfe der App „AudioguideMe Stories“ selbst die Geheimecken heraus. W: freecitytour.com, audioguide.me
Party-Tipp Ihr wisst nicht, wo Ihr sowohl chillige als auch feierwütige Leute treffen könnt? Dann klickt Euch durch die „Couchsurfing“-Events Eurer Stadt. Oft gibt es regelmäßige Treffen, wie in Hamburg beispielsweise immer montags ab 20 Uhr im Kosmos St. Liederlich auf St. Pauli. Dort könnt Ihr die Couchsurfing-Community live erleben. Weekly Monday CS Drinks at Kosmos, Paul-Roosen-Str.25 (St. Pauli), W: couchsurfing.com/events.
Volle Hütte Hier ist der Name Programm! Feiert in einer großen Gruppe, entdeckt Hamburg von seiner verrücktesten Seite und lasst es bei der „Volle Hütte“-Partytour so richtig krachen. Samstags auf dem Kiez, W: volle-huette.com
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