Teil 1: Was ist das? Fünfstündige Kammerkonzerte in kalten, zugigen Kirchen. Schauspieler, die sich in Kunstblut wälzen, am besten nackt, und dabei infernalische Todesschreie von sich geben. Zuschauer mit Gehrock, Fliege und Monokel, die in der 20-minütigen Pause über die Lachshäppchen auf der „Senator-Platte“ herfallen und anschließend an ihrer Sektflöte nippen. Klingt nach Hochkultur? Ja vielleicht, aber möglicherweise auch nur nach einem Klischee von Hochkultur
Denn das, was als solche bezeichnet wird, ist längst nicht mehr der elitäre Freizeitspaß gut situierter Bildungsbürger, als den ihn die Hüter des (vermeintlich) guten Geschmacks lange verstanden haben. Dennoch wirkt die Kategorie „Hochkultur“ vor allem für junge Menschen immer noch wie eine unbezwingbare Festung, die sie nicht einnehmen wollen oder können. Doch warum ist die Scheu immer noch so groß? Statt zum hundertsten Mal am Freitag ins Kino zu gehen, könnte man doch auch mal eine Ballettaufführung besuchen – oder in die Oper gehen!
Hochkultur versus Populärkultur
Hochkultur ist anstrengend, unverständlich, verkopft, spießig und vor allem öde. Dass sie diesen Ruf hat, liegt auch daran, dass sie mit der Populär- oder Popkultur einen Gegenspieler hat, der das genaue Gegenteil zu sein scheint: bunt, schillernd, sexy und vor allem leicht verständlich. Beide einander gegenüberzustellen, ist in etwa so, als ob Faust und Superman zusammen in den Ring steigen würden. Intellekt und Ernsthaftigkeit auf der einen Seite, Action und Unterhaltung auf der anderen Seite. Dass man diese beiden kulturellen Produkte dabei so stringent voneinander trennt, das eine der E-Kultur (Ernste Kultur), das andere der U-Kultur (Unterhaltungskultur) zurechnet, ist das Ergebnis eines Kulturkampfes, der in den vergangenen Jahrhunderten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Klassen ausgetragen worden ist.
Kulturelle Praktiken und Geschmacksnormen, die über einen langen Zeitraum von der gesellschaftlichen Elite bestimmt wurden, galten auch immer als Ausdruck einer kulturellen Vormachtstellung: Kunst- und Modestile, Musik, Literatur, Einrichtung, gesellschaftliche Konventionen oder Verhaltensweisen waren stets das Spiegelbild eines komplexen Geflechts aus sozialen Strukturen, wirtschaftlichen Interessen, politischer Macht und Machtausübung. Was angebracht und angemessen ist, worüber sich „guter Geschmack“ äußerte, bestimmten über Jahrhunderte hinweg die Klassen, die über Geld und Macht verfügten. Der Meinungsführer in Sachen Kultur und Geschmack war ab dem 18. Jahrhundert in Europa vor allen ein neu entstehendes Besitz- und Bildungsbürgertum – und das ging nun mal mit Vorliebe ins Museum, Theater, Ballett oder die Oper.
Weil sich nun aber infolge der Industrialisierung und Urbanisierung ab dem 18. Jahrhundert auch der materielle Lebens- und Bildungsstandard vieler normaler Bürger verbesserte und auch die Unterschichten Kaufkraft und Freizeit errangen, gab es eine verstärkte Nachfrage sowohl nach Industrie- und Handelswaren als auch nach Kunst und Vergnügen. Es bildete sich bald ein kultureller Massenmarkt heraus, ein neues System kommerzieller Populärkünste, das sich an der Mehrheit orientierte, die keinen Gebrauch von der Hochkultur des Bürgertums machte. Kulturangebote waren nicht mehr nur für „die gute Gesellschaft“ und das Bürgertum zugänglich – die einsetzende Massenproduktion machte auch die unteren Schichten zu Konsumenten. Dies führte dazu, dass Fragen des Geschmacks nun auch auf der Straße und im einfachen Volk verhandelt wurden. Jahrmärkte, Kinos und Groschenromane erfreuten sich immer größerer Beliebtheit ‒ die Massenkultur war geboren.
Spätestens da diente das Prädikat „Hochkultur“ den führenden Gesellschaftsschichten als Abgrenzung zur Massen- und Alltagskultur, quasi als eine Art Schutzschild, mit dem die hochwertigen und exklusiven Kulturgüter vor dem Pöbel schützen wollte.
Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt …
Nun ist es leider so, dass sich dieses Denken auch heute noch durch breite Bevölkerungsschichten zieht. Hochkultur, das sei nur etwas für Bildungsbürger mit grauem Haar und marinefarbenem Blazer, an dem kleine Goldknöpfe prangen, wohingegen die Produkte der Populärkultur keine besondere Bildung, keinen hohen gesellschaftlichen Status erfordern ‒ ins Musicaltheater komme ich schließlich auch mit Jeans und Kapuzenpulli.
Doch wie kann man diesen scheinbar unumstößlichen Gegensatz zwischen Hochkultur und Populärkultur denn nun auflösen? Ganz einfach: Man müsse nur lernen, Erfahrungen zuzulassen und bereit sein, sich ungewohnten Situationen auszusetzen. Das glaubt zumindest Daniel Kühnel, der Intendant der Hamburger Symphoniker. Seit seinem Amtsantritt vor nunmehr 11 Jahren hat der 42-jährige durch unermüdliche Öffentlichkeitsarbeit, kluge PR- und Crowdfunding-Aktionen vieles daran gesetzt, dem Residenzorchester der Laeiszhalle eine größere Aufmerksamkeit zu verschaffen ̶ und das mit Erfolg, wie die konstant steigenden Besucherzahlen beweisen.
Viele öffentliche Kultureinrichtungen in Hamburg tun es ihm gleich und versuchen ebenfalls das Image von bürgerlich-verstaubter Spießigkeit abzulegen und durch zielgruppengerechte Aktionen junge Menschen für große Kunst zu begeistern. So bietet die Kunsthalle mit ihrem Projekt „Junge Freunde“ spannende Einblicke in die Kunst- und Kulturszene der Stadt. Vielversprechend ist auch ihr Programm „kmk“, bei dem Studierende aus dem Bereich Kunstgeschichte Führungen für ihre Kommilitonen in der Hamburger Kunsthalle anbieten und in lockerer Atmosphäre über die Hintergründe und Macharten von Kunstwerken mit den Anwesenden plaudern. Seine Anziehungskraft auf ein junges Publikum möchte seit geraumer Zeit auch das Hamburg Ballett mit Hilfe des Bundesjugendballetts verstärken. Auf Initiative des Intendanten John Neumeier wurde mit diesem vor vier Jahren eine junge Kompagnie ins Leben gerufen, die das Ballett hinaus auf die Straße trägt und neben Bahnhöfen auch Gefängnisse zu ihrer Bühne macht.
Doch neue Kommunikationsstrategien, so innovativ sie sein mögen, bedürfen auch immer viel Fingerspitzengefühl, sonst wird am Ende alles zum Event oder zur großen Party. Denn: Da gibt es ja nach wie vor diesen ominösen Bildungsauftrag, den die staatlich subventionierte Hochkultur zu erfüllen hat. Dessen sind sich auch die Hamburger Symphoniker bewusst, die ihr Schaffen bereits seit ihrer Gründung im Jahr 1957 als Bildungsauftrag begreifen und den Daniel Kühnel folgendermaßen beschreibt: „Die Hamburger Symphoniker verstehen sich als denkendes Orchester. Das heißt, dass wir uns mit unseren Programmen, mit unserer Art zu musizieren, mit unseren Gedanken, die wir uns über die Werke machen, in gesellschaftliche Debatten einbringen. Die Stimme der Musik ist auch eine politische, da sie niemals privat, sondern immer im öffentlichen Raum zu hören ist. Darüber mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen, wäre überaus spannend.“
Dies versuchen die Symphoniker unter anderem durch ein bundesweit einzigartiges Education-Programm. So arbeitet das Ensemble eng mit Kitas und Schulen zusammen und veranstaltet im Jahr zahlreiche Projekte – bald auch mit Flüchtlingskindern. Um die Scheu vor Klassik abzubauen, werden auch immer wieder Einführungsveranstaltungen angeboten, in denen die Besucher auf das bevorstehende Konzert „vorbereitet“ werden. Ihre Premiere feierte gerade die Aktion „MusikImPuls“, bei der die Symphoniker den Konzertsaal verlassen und die Hamburger in Form von Live-Projektionen und spontanen Konzerten an öffentlichen Plätzen kostenlos an ihrer Musik teilhaben lassen.
Letztendlich geht es Daniel Kühnel und dem Orchester sowie allen anderen Vertretern von Kulturinstitutionen darum, Menschen zusammenzubringen, ihnen ein gemeinschaftliches und sinnstiftendes Erlebnis zu bescheren, bei dem man auch gar nicht immer alles verstehen muss. Die Theater-, Opern-, Musik- und Museumslandschaft in Hamburg bietet eine Vielzahl spannender Begegnungsstätten, die außergewöhnliche kulturelle Erlebnisse bereithalten. Es wäre schade, wenn wir von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch machen würden.
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