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WORK-LIFE-BALANCE

Wie entkommen wir der 40-Stunden-Woche?

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Unsere Generation sowie die Hälfte aller Berufstätigen möchte weniger arbeiten und mehr Zeit für Freunde, Familie, Hobbys oder Ehrenamt haben. Wir haben mit Hamburgern gesprochen, die weniger oder selbstbestimmter arbeiten und zeigen, wir wir dem veralteten Arbeitssystem entkommen können.

Wenn Jenny Feldmann (Name geändert) nach ihrem Job gefragt wird, schweigt sie zunächst etwas betreten. Ihr Kommunikationsstudium hat sie vor einem Jahr abgeschlossen, seitdem arbeitet sie ehrenamtlich in der Entwicklungshilfe und reist dafür um die Welt. Dank ihrer Ersparnisse und einer günstigen Miete kann die Barmbekerin sich das bisher leisten. Eigentlich wollte sie sich schon vor Monaten an die Bewerbungen setzen, doch etwas in ihr rebelliert dagegen. Denn sie weiß: Höchstwahrscheinlich ist ihre nächste Stelle in Vollzeit. „Ich habe wirklich Angst davor, acht Stunden täglich in einem stickigen Büro gefangen zu sein“, sagt sie. Jenny schreibt gerne und möchte etwas Sinnvolles tun. Im Studium hat sie mehrere Vollzeit-Praktika absolviert – und sich jedes Mal gequält. „Im Winter gehst du im Dunkeln zur Arbeit und kehrst im Dunkeln zurück, die ganze Woche siehst du kein Licht, außer wenn du in der Mittagspause rausgehst – aber dafür ist es meistens zu kalt.“

Wenn sie abends nachhause kam, war sie so müde, dass sie wede Sport machen noch Freunde treffen wollte. „Essen machen, eine Runde Netflix und ab ins Bett – für mehr hatte ich ehrlich gesagt keine Kraft. Das ist doch kein Leben“, sagt die 25-Jährige. Was sie am meisten ärgert: Es gibt keinen rationalen Grund, warum sie in ihrem Bereich nicht auch anders arbeiten könnte – flexibler, im Home Office oder einfach weniger. Außer, dass es eben in den meisten Unternehmen nicht üblich ist. Diese verwöhnte Generation Y, würden einige sagen. Unsere Eltern und Großeltern haben deutlich mehr gearbeitet und niemand habe sich beschwert. Auch Jenny schämt sich ein wenig, möchte ihren wahren Namen nicht preisgeben, damit eventuelle Arbeitnehmer sie nicht als arbeitsfaul abstempeln. Doch ist sie wirklich so privilegiert, wie unserer gesamten Generation regelmäßig vorgeworfen wird, oder einfach nicht bereit, ein System hinzunehmen, das längst ausgedient hat?

  • Wir arbeiten uns kaputt

1930 schrieb der Ökonom John Maynard Keynes, die Menschen würden in 100 Jahren nur noch drei Stunden am Tag arbeiten. Für ein gutes Leben im 21. Jahrhundert reiche dies vollkommen aus, da das Wirtschaftswachstum allen ein wohlhabendes Leben ermöglichen würde. Was das Wachstum angeht, lag er goldrichtig. Trotzdem atmen wir den Großteil des Tages abgestandene Büroluft. Studien zeigen längst: Wer mehr Zeit im Büro verbringt, schläft schlechter, klagt häufiger über Rückenschmerzen, Erschöpfung und Stress. Freunde, Familie, Hobbys, Ehrenamt oder auch mal zum Arzt gehen – für all das bleibt dank Vollzeitjob meistens kaum Zeit. Jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland hat laut einer Studie der Techniker Krankenkasse schon einen Burnout erlebt. „40 Stunden arbeiten ist wie unter einer Klarsichtfolie leben und zwischendurch ein kleines Loch hineinschneiden, um Sonne zu riechen“, schreibt die Autorin Bianca Jankovska in einem Artikel. Das Fazit ihres gerade erschienenen Buchs „Das Millenial Manifest“ lautet: „Das Schlimmste was uns nach der Schule oder dem Studium widerfährt, ist nicht der Kredit, den wir abbezahlen, oder die Trennung von der Langzeitbeziehung. Es ist die Diagnose: 40 Jahre Erwerbsarbeit.“

Damit spricht uns die Wienerin aus der Seele. In den letzten Jahren werden die Stimmen wie die von Jankovska immer lauter. In einer Befragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 2015 sagten 18 Millionen Menschen, sie würden gerne weniger arbeiten – das ist fast die Hälfte aller Erwerbstätigen. Die IG Metall fordert eine 28-Stunden-Woche. In den Niederlanden gibt es seit 2015 ein Recht auf Home Office. Im letzten Jahr berichteten zudem nahezu alle Medien von der „Zeit“ bis zum „Stern“ über eine Bielefelder Agentur, die den Fünfstundentag eingeführt hat – bei gleicher Bezahlung. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Wunsch nach weniger Arbeit keine bloße Befindlichkeit ist.

Bianca Jankovska, Buchautorin

  • Abseits der veralteten Strukturen

Der Psychologie-Student Daniel Karim ist einer von ihnen. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Verhaltenscoach, indem er Menschen beibringt, neue Gewohnheiten zu etablieren – zum Beispiel mit dem Rauchen aufzuhören. Er coacht via E-Mail und Skype. Auf seinem Blog danielkarim.com schreibt der 28-Jährige zudem Artikel über Psychologie und interviewt besonders erfolgreiche Menschen, um von ihnen zu lernen. „Mit dem Laptop kann ich theoretisch auch von Planten un Blomen aus arbeiten“, sagt Daniel, der in der Schanze lebt und noch nie einen „richtigen“ Vollzeit-Job hatte. Er findet die klassischen Arbeitszeiten bedenklich: „Studien zeigen, dass man anspruchsvolle Tätigkeiten sowieso nicht länger als vier Stunden am Tag machen kann.“ Als Daniel überlegt hat, was er mit seinem Leben machen möchte, wollte er vor allem eins nicht: Die wertvollsten Stunden des Tages für jemand anderen arbeiten. „Das ist klassisch deutsch: Du arbeitest die ganze Zeit und dein richtiges Leben musst du irgendwie danach hinkriegen – aber dann bist du einfach nur kaputt.“ Für ihn ist klar, dass die steigenden Zahlen von Depressionen und Burnout zum großen Teil daraus resultieren, dass wir unter Konditionen leben, für die wir nicht gemacht sind: „Wir bewegen uns zu wenig, sind nicht genug in der Natur und sehen oft keinen Sinn in unserer Arbeit. Wir haben eine Gesellschaft, die nicht zu Menschen passt“, sagt er. Sich selbstständig zu machen ermöglicht zwar, den Zwängen der Arbeitswelt zu entfliehen, jedoch ist auch dieser Weg nicht gerade einfach. Am Anfang waren bei ihm Nudeln mit Sardinen angesagt – und finanzielle Unsicherheit. Von Faulheit kann da ebenfalls keine Rede sein. Daniel arbeitet oft mehr als 40 Stunden die Woche. Allerdings teilt er sich die Arbeitszeit nach seinen Bedürfnissen ein und achtet darauf, oft Pausen einzulegen. Seine Arbeit passt sich seinem Leben an – und nicht andersrum.

Daniel Karim, Psychologie-Student und Coach 

  • Teilzeit als Zwischenlösung

Für Menschen mit beruflichen Träumen mag die Selbstständigkeit der beste Weg sein. Doch viele von uns wollen eine Arbeit, die sich sinnvoll und produktiv anfühlt, uns aber nicht alle Lebenskräfte raubt. Diesen Menschen bleibt eigentlich wenig übrig, außer ihre Arbeitsstunden zu reduzieren. In Deutschland hat im Prinzip jeder einen Anspruch auf Teilzeit, was allerdings meist mit weniger Gehalt und geringerer Rente einhergeht. Und manchmal auch mit missgünstigen Blicken von Kollegen. Glücklicherweise gibt es auch Gegenbeispiele. Für einen Teilzeitjob hat sich auch Niels Koll Soto entschieden, der 30 Stunden die Woche bei dem Startup Cerascreen in der Feldstraße arbeitet. Der Job ermöglicht ihm, nebenbei selbstständig als Ernährungsberater zu arbeiten – eine Tätigkeit, die irgendwann sein zweites Standbein werden soll. Die Festanstellung in Teilzeit ist für ihn perfekt: „Du bist versichert, hast ein festes Einkommen und trotzdem Zeit, etwas anderes zu machen“, sagt Niels. Langfristig möchte der 27-Jährige mit seiner Selbstständigkeit ein sogenanntes „passives Einkommen“ generieren, beispielsweise mit dem Verkauf von Trainingsplänen oder Nahrungsergänzungsmitteln – damit er im Schnitt weniger arbeiten muss. „Unsere Generation hat immer weniger Freizeit und schätzt diese umso mehr."

Niels Koll Sato arbeitet in Teilzeit beim Startup Cerasceen.

  • Gesundheit als Teil der Unternehmenskultur

Niels hat Glück, denn das Startup Cerascreen hat neben Teilzeit auch Home Office und ortsunabhängiges Arbeiten für seine Mitarbeiter eingeführt. Im Sommer hat Niels zwei Monate lang von Spanien aus gearbeitet, wo seine Freundin ein Auslandssemester macht. Auch einige seiner Kollegen bei Cerascreen sind in Teilzeit angestellt. Eine Führungskraft arbeitet vier Tage die Woche, eine weitere Mitarbeiterin ist gerade zum Studieren nach Australien gezogen und arbeitet 20 Stunden im Homeoffice. „Gute Leute sind schwer zu finden“, sagt der Gründer und Geschäftsführer Olaf P. Schneider. „Und ich will ein cooles Unternehmen, das gute Mitarbeiter anzieht.“ Zufriedene Angestellte kündigen selten. Lieber passe der Hamburger die zeitlichen Rahmenbedingungen an das Leben seiner Mitarbeiter an, als ständig neue suchen zu müssen. Außerdem ist Gesundheit Teil der Unternehmenskultur: Das Startup entwickelt medizinische Selbsttests, wie einen Vitamin-D-Test. „Ich halte es für notwendig, vermeidbaren Stress möglichst zu reduzieren“, sagt Schneider. Der Geschäftsführer sieht unternehmerische Vorteile darin, seine Mitarbeiter glücklich zu stimmen: „Ich glaube, wenn Menschen glücklich sind, sehen sie mehr Sinn in ihrer Tätigkeit und produzieren bessere Ergebnisse.“

Olaf P. Schneider, Gründer und Geschäftsführer von Cerasceen, ermöglicht seinen Mitarbeitern flexible Zeiten und ortsunabhängiges Arbeiten.

  • Die Arbeit umverteilen

Schneider nennt auch einen weiteren Grund, warum sich die Arbeitswelt wandeln müsste. „Ich glaube, es wird bald nicht mehr genug Arbeit für alle geben“, sagt er. Dank Digitalisierung habe sich die Arbeit nicht nur verändert, sondern es werden ganze Arbeitsprozesse und Berufsbilder „wegautomatisiert". Das McKinsey Institut hat ausgerechnet, dass die Hälfte aller weltweiten Arbeitsstunden bis 2055 wegfallen könnten. Der deutsche Digitalverband Bitkom spricht davon, dass in den kommenden fünf Jahren jeder zehnte Arbeitsplatz in Deutschland in Gefahr sei. Fast zwei Millionen Überstunden machen die Deutschen jedes Jahr. Die Hälfte von ihnen würde gerne weniger arbeiten, zugleich gibt es fünf Millionen Arbeitslose. Die Lösung des Problems liegt auf der Hand. Langfristig müssen wir die Arbeit umverteilen. Beispielsweise könnte eine 30-Stunden-Woche mehr Menschen ermöglichen, entspannter ihren Lebensunterhalt zu sichern, vor allem wenn sie sich um Kinder kümmern oder Angehörige pflegen müssen – was irgendwann auf fast jeden zutrifft. Sogar die Gleichberechtigung würde davon profitieren – denn zu oft landen Frauen in der „Teilzeitfalle“, aus der sie nicht wieder herauskommen. Viel gerechter wäre es, die Arbeitswelt so zu gestalten, dass jeder und jede daran teilhaben könnte. Dafür braucht  es auch faire Gehälter. Eine 30-Stunden-Woche als Vollzeit bringt nur dann die gewünschte Entlastung, wenn die Gehälter nicht auf das Hartz-4-Niveau gedrückt werden, sondern auf Vollzeit-Niveau bleiben oder nur minimal gekürzt werden. Viele Unternehmen werden dagegen ebenso heftig protestieren wie gegen den Mindestlohn. Doch genau wie der Mindestlohn gehören menschenfreundliche Arbeitszeiten zu einem fortschrittlichen Land einfach dazu. Zudem ist eine Arbeitsumverteilung eine deutlich realistischere Möglichkeit, als zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen. Während die Finanzierbarkeit dessen noch fragwürdig ist, würde eine reduzierte Vollzeit aus Unternehmenssicht lediglich eine relativ kleine Gehaltserhöhung bedeuten – oder gestiegenen Personalbedarf. Der sie wiederum produktiver machen könnte, wovon letztendlich alle profitieren. Genau wie von ausgeglichenen und ausgeschlafenen Mitarbeitern.

  • Was können wir selbst tun?

Vermutlich vor allem eins: Mutig sein und unsere Ansprüche kundtun. Sein Recht nutzen und 32 statt 40 Stunden arbeiten. Minimalistischer leben. Im Bewerbungsgespräch nach Teilzeit-Optionen fragen und deutlich machen, dass sich die Ansprüche an die Arbeitswelt verändert haben. Überrascht sein, wenn es keine flexiblen Arbeitszeiten gibt, obwohl gegen sie nichts einzuwenden wäre. In Absage-Mails und auf Bewertungsportalen wie kununu die fehlende Flexibilität bemängeln. Nach alternativen Verdienstmöglichkeiten suchen, Stichwort passives Einkommen. Langfristig Geld anlegen. Im Zweifelsfall diesen Artikel drucken und anonym an alle Chefs schicken, für die man jemals gearbeitet hat. Und warten, bis der gesunde Menschenverstand endlich in ein Gesetz fließt. Glücklicherweise bewegt sich die Arbeitswelt, wenn auch langsamer als wir es uns wünschen. Jenny schreibt inzwischen an einer Bewerbung. Sie hat einen Job als Texterin für einen Verein gefunden – für einen guten Zweck und in Teilzeit.

  • Unser Buchtipp: Das Millenial Manifest von Bianca Jankovska

Schaut auch auf Biancas Blog Groschenphilosophin oder bei Instagram @Groschenphilosophin für mehr Tipps und Artikel zum Thema Arbeit vorbei!

 

Text: Natalia Sadovnik
Fotos: Ziggel (2), de Leon (2), Nordlöf (1), Karik (1)

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