uniscene

News aus Hamburg
HAMBURGS BARRIEREFREIHEIT

„Wir sollten endlich aufhören in Problemen zu denken“

Achtung_Barriere_C_Michel_Arriens.jpg

Barrierefreiheit hört nicht mit dem flächendeckenden Ausbau von Bahn-Haltestellen auf – sondern muss vor allem in den Köpfen aller Menschen ankommen. Deshalb haben wir uns gefragt: Wie barrierefrei ist Hamburg eigentlich? Und stellen euch Hamburger Macher vor, die mit und ohne Handicap zeigen, wie Dinge angepackt werden und die mit vollem Engagement die Inklusion vorantreiben.

Es ist ein kalter Februarmorgen, Michel Arriens aus St. Georg wartet auf den Bus. Er ist kleinwüchsig und da ihm Laufen schwerfällt, ist er auf seinem Roller unterwegs und nimmt für längere Strecken in der Stadt meistens den Bus. Dabei sitzt er immer auf dem Rollstuhl-Platz. Bis zu jenem Morgen vor knapp zwei Jahren, an dem Michel nicht mitgenommen und vom Fahrer aus dem Bus geschmissen wird, da er ein angebliches Sicherheitsrisiko für sich selbst und seine Mitreisenden darstellt. Auch die danach eintreffende Linie nimmt Michel nicht mit – über Funk haben sich die Fahrer gegenseitig informiert. „Ich war den Tränen nahe. Lange hatte ich mich nicht mehr so behindert und klein gefühlt“, kommentiert er auf seiner Facebookseite. 

Der 28-Jährige arbeitet als Social-Media-Manager und Campaigner für die Online-Petitionsplattform Change.org, ist beim Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e.V. aktiv und wirbt mit Veranstaltungen, Beratungsarbeit und Aktionen für mehr Akzeptanz. Auch privat setzt sich der Fotograf und Blogger in den sozialen Netzwerken für Barrierefreiheit, Gleichberechtigung und Inklusion ein, macht auf Probleme und mögliche Lösungswege aufmerksam – wie auch bei dem Vorfall im Bus. Dieser gelangt darüber hinaus sogar an die Öffentlichkeit, verschiedene Medien berichteten darüber, die Hochbahn erntete einen Shitstorm und lenkte schließlich ein: Michel darf wieder Busfahren. „Nie zuvor war es dank Social Media so einfach, sich als bisher zu wenig wahrgenommene Stimme Gehör zu verschaffen und sich für positive Veränderung einzusetzen.“ Als größte Hürde erweisen sich seiner Meinung nach vor allem die gedanklichen unachtsamen Barrieren der Menschen: „Diese versuche ich mit meiner Social-Media-Community auf Facebook, Twitter und Instagram, aber auch mit Offline-Aktionen abzubauen.“ So postete er kürzlich zum Beispiel ein Foto, das zeigt, wie er eine zu hohe Ampelarmatur in der Stadt mit einem seiner roten Aufkleber „Achtung Barriere“ markiert.

Aktivist für Inklusion –Michal Arriens macht über seine Social-Media-Kanäle auf Missstände der Barrierefreiheit aufmerksam. Auf Twitter ist als @RollerundIch und auf Instagram als @michelarriens.de unterwegs.

 

  • Wie barrierefrei ist Hamburg?

Behindertengerecht sollen auch die Hamburger U-Bahnhöfe werden. Mittlerweile sind nach Angaben der Hochbahn rund 80 Prozent aller U-Bahnhaltestellen in Hamburg barrierefrei und mit Aufzügen, erhöhten Bahngleisen und Orientierungssystemen für Blinde ausgestattet. Problem dabei: Der Ausbau beliebter und viel genutzter City-Stationen wie Rathaus oder Jungfernstieg erfolgt erst 2020. Richtig schwierig wird es auch an der Sternschanze. Denn bislang gibt es keine bauliche Lösung, weshalb überlegt wird, die Station komplett zu erneuern. Laut Hochbahn würde das Projekt erst 2028 starten. Als Vorbild für aktives und inklusives Mitdenken gilt bereits die Kunsthalle, die seit April 2016 komplett barrierefrei ist. Für Menschen mit Handicap werden spezielle Führungen angeboten, in denen Blinde und Sehbehinderte die Werke beschrieben bekommen und diese anfassen können. Für Taube und Schwerhörige werden gemeinsam mit dem Gehörlosen Verband Hamburg die Rundgänge in Gebärdensprache geführt.

„Hamburgs Barrierefreiheit ist gar nicht mal so schlecht. Ich habe da deutlich schlimmere Städte erlebt“, berichtet Anastasia Umrik, die wegen ihrer spinalen Muskelatrophie – kurz und knapp auch Muskelschwund bezeichnet – in einem elektrischen Rollstuhl sitzt. „Allerdings sind die Fahrstühle häufig kaputt und die Stufen zur U-Bahn sind zu hoch. Deshalb bin ich lieber mit dem Bus unterwegs.“ Noch ein Problem für Anastasia ist die Toilettensituation in der Stadt: „Die ist hier wirklich katastrophal. Behindertengerechte WCs sind quasi Mangelware. Ich bin meistens in Cafés oder Restaurants, wo es in der Nähe Hotels gibt, die haben eigentlich immer ebenerdige Behindertentoiletten.“ Wer anfangs die Barrierefreiheit ebenfalls nicht ganz auf dem Schirm hatte, ist unsere Elphi: Knapp zehn Jahre lang dauerte der millionenschwere Bau des neuen Wahrzeichens inklusive den fancy Glasfassaden, aufwändigen Lichtinstallationen und der schicken 360 Grad-Plaza. Doch sichtbare Markierungen an Treppen oder Beschriftungen in Blindenschrift wurden dabei vergessen und mussten für viel Geld nachgebessert werden.

  • Powerfrau mit Modelabel, Podcast und spannenden Projekten

Anastasia kam als Siebenjährige mit ihrer Familie aus Kasachstan nach Deutschland. Schon immer saß sie im Rollstuhl. In Hamburg machte sie eine Ausbildung im Groß- und Außenhandel und studierte ein paar Semester soziale Arbeit, ehe sie sich für die Selbstständigkeit entschied. Heute führt die 31-Jährige ein Modelabel, gibt Coachings und Workshops, ist Bloggerin, Autorin und schreibt gerade an ihrem ersten Kinderbuch. Generell ist Anastasias Einstellung in Sachen Inklusion easy: „Einfachmal entspannen!“ Neugierig sein, nachfragen und weniger angespannt sein – was für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen gilt. Diese Botschaft sendet sie mit ihrem Modelabel InkluWAS, das sie vor ein paar Jahren mit der Hamburger Designerin und ihrer früheren persönlichen Assistentin Kathrin Neumann gründete. Mit Leichtigkeit und Humor setzt es ein politisches Statement für eine offene Gesellschaft. Die Motive auf den T-Shirts, Hoodies oder Taschen spiegeln die Vielfalt der Gesellschaft wider – Strichmännchen mit und ohne Handicap, im Rollstuhl, groß, klein, dick oder dünn. Anastasias neustes Projekt ist ihr eigener Podcast „andersrum – und das Leben wird leichter“ auf Spotify. „Hier geht es ums Coaching und die Frage, wie man gut leben kann. Ich erzähle von meinen Höhen und Tiefen und wie ich gewisse Probleme gelöst habe. Vielleicht kann jemand daraus etwas mitnehmen“, erzählt sie.


 

Anastasia Umrik (li.) mit Designerin Kathrin Neumann Modelabel.  Auf Twitter ist Anastasia unter @AnastasiaUmrik sowie auf Instagram unter @anastasieee1 zu finden 

Anastasia führt ihr Leben selbstständig, sie ist auf Hilfe angewiesen und lebt daher mit persönlichen Assistentinnen in ihrer Wohnung in Rothenburgsort zusammen, die sie durch den Alltag begleiten und sie unterstützen. Dazu gehören pflegerische Aufgaben sowie die Hilfe im Haushalt. Aus dieser Zusammenarbeit ist ihr Projekt Kein0815Job entstanden. Auf ihrer Website informiert Anastasia potentielle Bewerberinnen über den Beruf und die Tätigkeiten einer persönlichen Assistentin – und das mit Erfolg. „Ich erhalte seitdem sechs bis acht Bewerbungen mehr als sonst. Vielleicht weite ich die Seite als Plattform aus, um anderen Personen im Rollstuhl eine persönliche Assistenz zu vermitteln.“ Wenn Anastasia sich abseits von ihren Projekten und Ideen, wie man die Welt verbessern könnte, mal eine Auszeit gönnt, probiert sie neue Cafés oder Bars in der Stadt aus. Ihre Lieblingslocation ist das entspannte und ruhige Brooks in Eilbek.

InkluWAS setzt Statements für eine offene Gesellschaft.

  • Digitale Visionäre und Projekte aus Hamburg

Ein weiterer, entscheidender Aspekt, der inklusives Denken und Miteinander voranbringt, sind digitale und smarte Innovationen. Wie das geht, zeigen die Hamburgerinnen Cherisa Nicholls und Melissa Gile, die am NIT Northern Institute of Technology in Harburg studieren. Die beiden lernten sich im Masterstudium „Technology Management“ kennen und entwickelten hier einen prothetischen Handschuh und eine dazugehörige App, die Menschen mit Armprothese das Leben erleichtern sollen. „Auch wenn es eine Vielzahl verschiedener Prothesenarten gibt, halten sich die ergänzenden Therapieangebote der Hersteller in Grenzen. Es gibt immer noch eine Marktlücke“, erklärt Cherisa. Modernste Sensoren und eine Game-App helfen dabei, Bewegungen und filigrane Übungen spielerisch zu trainieren. Aktuell feilen die beiden jungen Gründerinnen noch an ihrem Businessplan, um ihre Erfindung auf den Markt bringen zu können.

Erfindung der Zukunft – Die NIT-Studentinnen Cherisa Nicholls (li.) und Melissa Gile wollen mit ihrem prothetischen Handschuh Menschen mit Armprothese unterstützen.

Eine weitere Hamburger App, die ab Januar in allen App-Stores erhältlich sein soll, ist EiS. Die drei Buchstaben sind die Abkürzung für „eine inklusive Sprachlern“-App, die das Erlernen der deutschen Gebärdensprache speziell für Kinder mit Down Syndrom ermöglicht. Das fünfk.pfige Team hinter der EiS-App lernte sich beim „ZEIT Hackathon“, einem Workshop für die Entwicklung von zukunftsweisenden Bildungsangeboten, kennen. Ideengeberin ist die Hamburger Projektmanagerin Anke Schöttler: „Wenn alle Kinder bereits in der Kita einen Grundwortschatz an Gebärden lernen würden, könnte das vielen den Einstieg in die Lautsprache erleichtern.“

Lern-App für Gebärdensprache – Beim „Zeit Hackaton“ entwickelten Marcus Willner, Louisa Heinrich, Anke Schöttler, Saskia Heim und Ron Droongowski (v.l.n.r.) eine inklusive Sprachlern-App

  • Hier könnt ihr euch engagieren:

...wenn ihr wenig Zeit habt:
Der Verein „Tatkräftig – Hände für Hamburg“ in Borgfelde organisiert eintägige Hilfseinsätze für Freiwillige. Ihr unterstützt dabei gemeinnützige Einrichtungen, die projektweise Hilfe für Menschen mit und ohne Behinderung benötigen – beispielsweise bei Ausflügen, Kochabenden oder Renovierungsaktionen.

...wenn ihr flexibel seid:
Der Verein „Leben mit Behinderung“ aus Winterhude sucht Freiwillige, die Menschen mit Handicap beim Alltag und während ihrer Freizeit begleiten möchten. Die Liste der Möglichkeiten ist lang, wie ins Kino, gemeinsam zum Sport oder Kaffeetrinken gehen. Engagieren kann sich dort jeder auch ohne Vorerfahrung.

...wenn ihr euch generell engagieren wollt:
Nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern teilweise auch Senioren, Kinder oder Menschen mit Migrationshintergrund brauchen in gewissen Dingen Unterstützung. freiwillig.hamburg ist ein Zusammenschluss von Hamburger Freiwilligenagenturen. Online gebt ihr an, für welche Personen, für welche Tätigkeit und wo in Hamburg ihr euch engagieren wollt und erhaltet entsprechende Projekte.


Unsere Autorin Roxanna hat sich getraut. In einem Selbsttest hat sie die Hamburger Innenstadt blind erkundigt. 

Text: Kristina Regentrop
Fotos: Michel Arriens (1), Spindelndreier (3), Diekmann (1), Williamson/Zeit-Verlag (1)

Nach
oben
×
×
Bitte richten Sie ihr Tablet im Querformat aus.